Buchrezension: All Gates Open – The Story Of CanDie Biografie der Band, die ein Organismus war
16.8.2018 • Kultur – Text: Christoph BenkeserDer Buchstabe „K“ steht in der deutschen Musikhistorie nicht nur für Kraftwerk, sondern auch für den Krautrock. Geprägt von Radiolegende John Peel, dürften Irmin Schmidt, Holger Czukay, Michael Karoli und Jaki Liebezeit über diesen Begriff nur den Kopf geschüttelt und sich dann einfach weiter im Studio verbarrikadiert haben. Denn ihre gemeinsame Band Can steht stellvertretend für genau diesen Sound und diese musikalische Haltung, Marketing-Slogans hin oder her. Der britische Musikjournalist Rob Young hat die Geschichte der Band nun aufgeschrieben. Und setzte dabei auf die Mithilfe des Bandgründers Irmin Schmidt. So folgt auf den biografischen Teil eine von Schmidt selbst kollagierte Oral History, zusammengesetzt aus Interviews und Tagebucheinträgen. Christoph Benkeser hat das Buch gelesen.
Am Ende steht Irmin Schmidt doch noch im Zentrum. In einem Buch über eine Band, die als Can die zum Krautrock beschworene Musik der 1970er-Jahre mitprägen sollte und sich stets anti-hierarchisch gab: keine Mitte, kein Zentrum, vor allem bitte schön kein Bandleader. Nur Ecken und Kanten, die als Gerüst für einen Organismus dienten, der sich in einer kurzen, aber intensiven Bandgeschichte entwickeln konnte.
Es muss schon eine wilde Zeit gewesen sein. Die Studentenproteste rund um die 68er-Bewegung sorgten für eine neue politische Kultur. Nicht nur in Westdeutschland dürfte die Stimmung ungemein aufgeladen gewesen sein; von Veränderungsbestreben, der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und dem Mief der nazifizierten Elterngeneration. Alles schrie und lechzte nach Neuem – ein antizipierter Wandel, der nicht zuletzt auch in und von der Musik mitgetragen werden sollte. Rob Young erzählt mit „All Gates Open“ die umfassende Geschichte einer Band, die sich nicht einfügen wollte in das, was war und deshalb von vorne anfing, um die Ästhetik der Popmusik von hinten aufzurollen. Das Buch ist ein kulturpolitischer Rückblick auf die 1970er-Jahre mitsamt den interessanten Darstellungen der Geschehnisse, deren Abfolge zur Entstehung von Inner Space und später (the) Can führen sollte.
Young gelingt es, die Geschichte der Band in ihrer Gesamtheit einzufangen – nicht als lose Abfolge von Ereignissen.
Michael Karoli, langjähriger Gitarrist von Can, beschrieb die Band einmal als lebenden Organismus, der in den elf Jahren seines Bestehens seit 1968 eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensphasen durchlaufen musste und sich in diesem Prozess erst selbst verwirklichen konnte. Young gelingt es, diese Abschnitte in ihrer Gesamtheit einzufangen, sie nicht als lose Abfolge von Ereignissen, sondern vielmehr als eine zusammenhängende und sich bedingende Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die in den späten 1960er-Jahren im Umkreis von Köln ihren Anfang nahm und bis heute nachwirkt. Selbst das Cover des Buchs stellt einen zusammenhängenden, wenn auch in sich verwobenen Organismus dar – geschlossen und doch offen steht es sinnbildlich für alle Eventualitäten und Umwege, die Can verfolgen musste, um deutsche Rockgeschichte ein Stück weit mitzuschreiben.
Irmin Schmidt ist dabei jene Persönlichkeit, auf die alles zurückgeht. Er, der heute letzte Verbliebene der Kernformation, war es nämlich, der eine aussichtsreiche Dirigentenkarriere an den Nagel hing, bevor er mit dem Wunsch auftrat, mit einer eigenen Band alles anders machen zu wollen. Diesen Drang ereilte zuerst Holger Czukay, mit dem Schmidt zusammen bei Karlheinz Stockhausen studierte. Später kamen dann Michael Karoli und Jaki Liebezeit dazu. Allesamt Individualisten, denen es gelang, ihr persönliches musikalisches Talent hintanzustellen und einzig für das Wohl des Kollektivs zu arbeiten.
Eine Band der absoluten Ausgeglichenheit
Ein hierarchisches Gefälle sollte man zumindest in den Anfangsjahren vergeblich suchen. So verwundert es auch nicht, dass die Position des Sängers in einem konventionellen Sinn fast immer vakant blieb; auch, weil mit Malcolm Mooney und später Damo Suzuki jeweils Personen am Mikrofon standen, denen es mehr darum ging, ihre Stimme als erweitertes Instrument, als zusätzliches Rhythmuselement und weniger als gängige Gesangskomponente in das Gefüge des Organismus einzubringen. Irmin Schmidt erklärte in einem Interview selbst, dass es bei Can nie darum ging, sich als Musiker zu verwirklichen. Vielmehr stand so etwas wie ein absichtsvoller Dilettantismus, ein erwünschtes Nichtkönnen mit anti-virtuoser Selbstauffassung im Vordergrund. Diese durchaus auch für damalige Zeiten sicherlich eigenwillige Ideologie wurde von kaum einer Band so sehr getragen wie von Can.
Alles andere als dilettantisch war natürlich die Art und Weise, wie die Stücke von Can zustande kamen. Anfangs noch aufgenommen auf einem rauschenden Zwei-Kanal-Mischer und in filigraner Kleinstarbeit am Band zusammengestückelt, entstanden die ersten beiden Alben „Monster Movie“ und „Tago Mago“ auf Schloss Nörvenich und wenig später im legendär gewordenen Inner Space, einem zum Headquarter und Studio umfunktionierten, ausrangierten Kino in der Nähe von Köln. Dieser Ort blieb bis zur Auflösung der Band 1979 Dreh- und Angelpunkt des Can-Universums und kann mittlerweile sogar im Gronauer Rock‘n‘ Popmuseum besichtigt werden.
Vom Porno zum Fernsehfilm
Von Luft und Liebe allein lebte es sich bekanntlich aber auch schon in den 70ern eher unbekömmlich und schwer. Ein wesentlicher Grund für den anhaltenden Erfolg dürften daher jene Arbeiten gewesen sein, die die Band kurz nach ihrer Gründung für unterschiedliche Filmzwecke produzierten. Schmidt brachte die Kontakte mit, das Kollektiv setzte die Musik um, die finanzielle Grundlage war geschaffen – und das, ohne sich zu verbiegen, denn die Musik war schon mit ihrem ersten Hit „Spoon“ (für den Durbridge-Thriller „Das Messer“) hochgradig experimentell.
Im Rückblick gilt Can nicht ohne Grund als autarkes Kollektiv, das, unabhängig von mächtigen Einflüssen der Plattenfirmen und Geldgeber, in seinem Schaffen eine eigenwillige (und heute kaum mehr vorstellbare) Freiheit verfolgen konnte.
Dass diese selbstbestimmte Unabhängigkeit nicht dem Zufall geschuldet war, sondern auf einige ausschlaggebende Faktoren zurückging, beschreibt Young ausführlich.
Zum einen sorgte Hildegard (Mogli) Schmidt (die Ehefrau von Irmin Schmidt) mit organisatorischen Kraftakten und autodidaktischen Managementfähigkeiten dafür, dass die Musik stets abgetrennt von marktwirtschaftlichen Einflüssen existieren und die Band sich dadurch auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Zum anderen konnte Can aus eben diesen Gründen auch mit größerer Bekanntheit das autarke Verhältnis aufrechterhalten, weil Einnahmen zu einem Großteil in den Ausbau und die Erweiterung des eigenen Inner Space Studios flossen. Eine in jeder Hinsicht gemeinschaftliche Entscheidung, die es ermöglichte, fortan abseits von zeitlichem oder gar ökonomischem Druck zu arbeiten.
Der erste Hauptteil des mit über 540 Seiten einigermaßen opulent ausgefallenen Wälzers bezieht sich auf eben jene biografischen Ausführungen, die Rob Young mit zahlreichen Interviews und Anekdoten von Bandmitgliedern und den ihnen nahestehenden Personen unterfüttert. Die teils ausufernden Rezensionen musikalischer Arbeiten ziehen einen ohnehin ausführlichen Text mitunter zwar etwas in die Länge, Young verstrickt sich allerdings nie in unbedeutsamen Nebensächlichkeiten und stellt ausschließlich die Geschichte der Band in den Vordergrund.
Im zweiten, kürzeren Teil von „All Gates Open“ findet man sich hingegen in verschiedenen Gesprächen wieder, die Irmin Schmidt über die Jahre mit Personen wie Mark E. Smith, Hans Ulrich Obrist und Wim Wenders geführt hat. Diese dialogischen Auseinandersetzungen sind interessant strukturierte Momentaufnahmen und offenbaren in Kombination mit den Tagebucheinträgen Irmin Schmidts teilweise ungewohnte Perspektivenwechsel, die gerade im Kontext der Biografie erweiterte Einblicke in das Wirken von Can ermöglichen. Zusammen mit den eingeschobenen und von Schmidt vor allem in seiner Wahlheimat Roussillion im Süden Frankreichs durchlebten und aufgezeichneten Traumerlebnissen wird man Teil seiner Gedankenwelt und damit irgendwie auch Teil des Can-Universums. „All Gates Open“ bietet großartige Einblicke in das Wirken einer Band, die alles anders und damit vieles neu machen sollte. Halleluwah!
Rob Young & Irmin Schmidt, „All Gates Open – The Story of Can“, ist bei Faber & Faber erschienen und liegt zur Zeit nur auf Englisch vor.