Seit den Attentaten in Paris greifen die gleichen Reflexe wie nach den Anschlägen am 11. September 2001. Wieder ist die Rede von der Vernichtung einer Terrorgruppe, vom Kampf gegen das Böse, vom schlechten Islam, von mehr Überwachung und Sicherheit. Aber auch von den Bomben des Westens, die ja zu nichts anderem als Terror führen könnten. Jeder hat eine Meinung zum Syrien-Konflikt, zum IS. Das Problem: Oft fehlt es am benötigten Basiswissen, dass ein Verständnis der Geschehnisse im Nahen Osten aber dringend erfordert. Ohne Differenzierung von Gruppierungen ist es unmöglich zu verstehen, warum sich al-Qaida (Attentat auf Charlie Hebdo) und IS (jüngste Anschläge in Paris) gegenseitig bekämpfen. Ohne einen differenzierten Blick auf den Islam und seine Geschichte, kann niemand die Rolle Saudi-Arabiens oder Irans verstehen. Ohne einen Blick auf die Karte, bleibt den meisten unverständlich, warum die Kurden sowohl in Nordsyrien, wie auch im Irak kämpfen – und wofür. Spätestens seit Paris ist klar: Dieser Konflikt geht uns etwas an. Aber der Dialog darüber benötigt mehr Tiefe. Weil uns das Thema am Herzen liegt, politisch wichtig ist, und Halbwissen nur gesellschaftliche Gräben zieht und vertieft, haben wir uns entschlossen, die heutige Leseliste monothematisch zu gestalten.
##Generation ohne Adoleszenz
Fanatische Gotteskrieger? Warum junge Männer aus dem Irak sich dem IS anschließen, hat mit Religion bzw. radikalem Islamismus weitaus weniger zu tun, als Medienbilder es uns glauben machen. Vielmehr handelt es sich um eine, ganz weltlich betrachtet, hoffnungslose Generation, großgeworden in einem nach dem Abzug der US-Truppen im Chaos hinterlassenen Land, in einer Bevölkerungsgruppe, denen so gut wie keine Rechte zugesprochen werden, oft ohne Väter. Um den IS zu verstehen und zu dekonstruieren, braucht es ein facettenreicheres Bild als das eines „Kalifen“ und seiner Gefolgschaft. Weiß Lydia Wilson, die zahlreiche gefangen genommene IS-Kämpfer interviewt hat.
„ISIS is the first group since Al Qaeda to offer these young men a way to defend their dignity, family, and tribe.“
##Strategie
Die Toten sind nur Mittel zum Zweck. Den Dschihadisten geht es darum, die an vielen Stellen ohnehin Islam-feindliche oder zumindest -kritische Stimmung weiter anzuheizen, um die Muslime bei uns zu radikalisieren. Schreibt Karim El-Gawhary in der taz und erklärt, wie genau diese Strategie in der Vergangenheit schon oft erfolgreich angewendet wurde. Erschütterndes Beispiel: Die Taktik von al-Qaida im Irak nach der US-amerikanischen Besetzung. Durch Rassismus zum IS. Wie wir uns gegenüber muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern jetzt verhalten, ist ein entscheidendes Puzzleteil für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt. Anschläge lassen sich so nicht verhindern. Aber der IS braucht eine neue Kosten/Nutzen-Analyse. Zwar macht der Autor schon am Anfang den sachlichen Fehler, indem er den Anschlag auf Charlie Hebdo dem IS zuschreibt, obwohl sich dafür al-Qaida im Jemen verantwortlich zeigte, doch dem Grundgedanken des Artikels schadet das nicht.
„Was sie zerstören, werden wir gemeinsam aufbauen. Wir werden dem Leben, das sie auslöschen, gemeinsam gedenken, und die Menschen, auf die sie zielen, gemeinsam schützen.“
Schluss mit der Simplifizierung
Den einen Islam gibt es nicht, folglich kann der Islam auch nicht böse sein. Dass dies hier immer noch diskutiert werden muss, ist ein Armutszeugnis für unsere wie andere westliche Bildungsgesellschaften. Das Problem: Ohne ein Grundverständnis für die zweitgrößte Weltreligion lässt sich gerade der aktuelle Konflikt in Syrien nicht verstehen. Und die Kenntnis des Unterschieds zwischen Sunniten und Schiiten reicht an dieser Stelle nicht einmal, um nachvollziehen zu können, warum sich so viele Gruppierungen auch untereinander bekämpfen. Im Kern geht um Wahhabismus, der nicht nur vom IS, sondern auch in Saudi-Arabien praktiziert wird. Das wiederum gibt dem eigentlich religiösen Thema eine große politische Relevanz. Zeit für ein bisschen Tiefe:
„Auf der einen Seite ist ISIS zutiefst wahhabitisch. Auf der anderen Seite anders ultraradikal. Man könnte ISIS im Kern als Korrektiv zum kontemporären Wahhabismus sehen.“
IS: von wegen plötzlich da!
Seitdem die Revolution in Syrien in einen Bürgerkrieg ausartete, ist der „Islamische Staat“, bzw. ISIS, ISIL, Daesh, ein Begriff. Plötzlich war er da, so schien es: mit tausenden Kämpfern und großen, kontrollierten Gebieten im Nordirak. So plötzlich wie in den Medien verkauft, ging das aber nicht vonstatten. In einer großen multimedialen und interaktiven Story geht Aljazeera den Ursprüngen der Extremisten nach. Dabei spielen die Baathisten des ehemaligen irakischen Regimes unter Saddam Hussein eine ebenso große Rolle wie die Islamisten von al-Qaida. Geboren wurde der IS übrigens in einem amerikanischen Militärgefängnis namens Camp Bucca:
„The de-Baathification process meant government forces were stripped of their military capabilities. At the same time, thousands of newly unemployed Iraqi soldiers turned to Sunni insurgent militias, greatly strengthening the anti-government forces.“