Verbotene LiebeInterview: Der Film „Stigma“ dokumentiert Gespräche mit einem Pädophilen

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Ein Plädoyer für Offenheit und Verständnis: In „Stigma“ stellen Schauspieler ein Interview mit einem Pädophilen nach. Filmemacher Peter Jeschke und Experte Jens Wagner werben für einen anderen Umgang mit diesem gesellschaftlichen Tabu. Ein Interview.

Pädophilie: ein schwieriges Thema. Kindesmissbrauch ist eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt. Keine Frage. Doch umso mehr Fragen tun sich rund um Pädophilie auf: Was ist sie eigentlich und was ist sie nicht? Sind Sexualstraftäter, die sich an Kindern vergehen, immer pädophil? Wie ist Menschen zu helfen, die pädophil sind? Der 2016 erschienene Kurzfilm „Stigma“ nähert sich dem Reizthema auf eine besondere Art an: Im Film tragen die Schauspieler Hendrik Arnst und Godehard Giese das gekürzte Originalinterview mit einem Pädophilen vor. Dieser Mann, der seine Tochter missbraucht hat, als sie ein Kind war, dann aus eigenem Willen eine Therapie absolviert hat und sich vor einigen Jahren seiner Tochter offenbart hat. Was findet dieser Mensch an Kindern? Wie hat sich der Missbrauch ergeben? Wie kann er mit seiner Neigung leben?

Gedreht haben ihn der Regisseur und Filmemacher Peter Jeschke sowie Jens Wagner. Er ist Pressesprecher des Präventionsnetzwerks „Kein Täter werden“, das Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, seit 2005 therapeutische Hilfe an elf deutschen Standorten anbietet. Matthias Hummelsiep hat den Film gesehen und mit den beiden Machern von „Stigma“ über die Bedürfnisse von Pädophilen und ihr Stigma in der Gesellschaft gesprochen.

Welche Gefühle hat die Geschichte dieses Mannes bei euch ausgelöst?

Peter Jeschke:
Ich wusste vorher, dass er pädophil ist, aber nicht, dass er übergriffig war. Als er davon erzählt hat, ist mir erstmal das Herz stehen geblieben. Da wird einem schon anders, wenn man mit einem Pädophilen zusammensitzt, der schon mal ein Kind missbraucht hat. Gerade am Anfang dachte ich, ich habe es mit einem Monster zu tun, weil ich mich mit der sexuellen Neigung und mit seinem Verhalten nicht identifizieren konnte. Auf der anderen Seite war das ein ganz normaler Mann, mit dem wir uns gut verstanden haben. Ich hatte schon vorher mit Pädophilen gesprochen, aber niemand ging mit sich selbst so sehr ins Gericht. Er hatte seine Therapie schon lange abgeschlossen und hatte Abstand dazu. Der Mann verließ den Raum und die Filmidee war sofort da.

Jens Wagner:
Ich hatte Peter den Teilnehmer unseres Projektes vermittelt. Als wir hier zu dritt saßen, hat mich seine schonungslose Offenheit sehr beeindruckt. Ich empfand Empathie, weil er sehr ehrlich über seine Bedürfnisse nach Liebe und Anerkennung gesprochen hat. Er fühlte sich schuldig und war darum bemüht, etwas gut zu machen. Auch wenn er wusste, dass der Missbrauch an seiner Tochter nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das waren bewegende Gespräche. Hinterher hatten wir das Gefühl, daraus müssen wir etwas machen.

Warum heißt der Film „Stigma“?

Jeschke:
Der Titel bringt die Sache am besten auf den Punkt. Die Stigmatisierung ist ja das große Problem für sie. Wir haben einem Pädophilen zugehört und brechen somit das Tabu, das Stigma.

Und was sagen die Leute?

Wagner:
Die Resonanz war bisher sehr positiv, viele Zuschauer stellten danach Fragen. Es gab ein Screening in Hannover, bei dem einige Betroffene sexueller Gewalt unter den Zuschauern waren. Sie haben in dem Mann verständlicherweise weniger den Pädophilen gesehen, der über seine Neigung spricht, sondern mehr den Täter, der über seine Taten spricht. Da stand die Frage im Raum: Darf man so jemandem überhaupt Empathie oder sogar Mitleid entgegenbringen?

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Hendrik Arnst spielt in „Stigma“ den pädophilen Mann

Bei „Kein Täter werden“ bekommen Pädophilie eine anonyme und kostenlose Therapie. Wie werden Menschen pädophil?

Wagner:
Das ist bislang nicht genau erforscht, übrigens ebenso wenig wie die Ursachen von Homo- oder Heterosexualität. Nach allem, was wir wissen, ist es wahrscheinlich, dass entwicklungsbiologische, psychische, aber auch soziale Faktoren für die Entstehung von Pädophilie eine Rolle spielen.

Also ist die Pädophilie eine natürliche sexuelle Neigung wie die Homo- und Heterosexualität?

Wagner:
Pädophilie bezeichnet eine sexuelle Präferenz, bezogen auf das kindliche Körperschema, das als erregend empfunden wird. Hetero- oder Homosexualität bezeichnen die sexuelle Orientierung auf das gleiche beziehungsweise andere Geschlecht. Wenn ein Pädophiler nicht unter seiner sexuellen Neigung leidet oder nicht gefährdet ist, diese auszuleben, handelt es sich internationalen Diagnosekriterien zufolge auch nicht um eine krankheitswertige Störung der sexuellen Präferenz. Das ist die Pädophilie nur dann, wenn sie mit Leidensdruck oder Fremdgefährdung einhergeht. Bei unseren Teilnehmern ist dies der Fall. Aber es gibt eben auch pädophile Menschen, bei denen keine Störung vorliegt.

„Seit 2014 bieten wir auch Jugendlichen mit einer sexuellen Ansprechbarkeit für Kinder therapeutische Hilfe.“

Haben pädophile Männer etwas gemein?

Wagner:
Die meisten leiden unter ihrer sexuellen Ausrichtung und wünschen sich, dass wir ihre Neigung wegmachen könnten. Die Jüngsten sind erst 18 Jahre alt, der Älteste war über 70. Unsere Teilnehmer kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Seit 2014 bieten wir auch Jugendlichen mit einer sexuellen Ansprechbarkeit für Kinder therapeutische Hilfe. Dieses Angebot richtet sich speziell an Minderjährige zwischen 12 und 18 Jahren. Interessant ist, dass sich viele junge Männer zwischen 16 und 20 Jahren bei uns melden, es dann aber eine größere Lücke gibt und die Teilnehmer durchschnittlich Mitte 30 sind, wenn sie bei uns Hilfe suchen. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass viele dieser Menschen lange damit kämpfen, ihre sexuelle Präferenz anzunehmen und hoffen, dass sie wieder weg geht. Doch sie bemerken dann, dass das präferierte Körperschema nicht mitwächst und sie älter geworden sind, aber immer noch Kinder begehren.

Jeschke:
Ich glaube, keiner wünscht sich diese Neigung. In der öffentlichen Wahrnehmung wird immer noch nicht zwischen Missbrauch und sexueller Neigung unterschieden und das macht es auch den Betroffenen schwer, sich damit zu identifizieren. Das eine, der sexuelle Missbrauch, ist ein Verbrechen, das andere ist die Neigung, mit der sie leben müssen.

Wagner:
Was du hier ansprichst, ist wichtig. Das ist einer der Hauptfaktoren dafür, dass die Menschen so darunter leiden. Sie wissen, dass die Gesellschaft sie für den allerletzten Dreck hält.

Jeschke:
Viele denken bei einem Pädophilen an einen eher dickeren, älteren, ungepflegten Mann, der einsam ist. Neulich hatte ich ein Treffen mit einem Mann, der war in unserem Alter, gut gekleidet, konnte sich gut ausdrücken. Er hätte unser Kumpel sein können. Ich hätte nie gedacht, dass er pädophil ist. Vielleicht hast du dich auch schon mit einem Pädophilen unterhalten und du hast es nicht gewusst. Man erkennt sie eben nicht.

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Wovor haben Pädophile am meisten Angst?

Wagner:
Ich denke, die Angst vor sozialer Ausgrenzung steht über allem. Selbst bei vielen von denen, die Missbrauchsabbildungen konsumiert haben, steht weniger die Angst im Vordergrund, juristisch belangt zu werden. Oftmals ist ihre größere Sorge, dass sie Familie und Job verlieren und somit sozial ausgegrenzt werden.

Jeschke:
Viele empfinden ja trotzdem auch ganz normale Zuneigung zum Kind. Das macht die Sache für sie so schwierig, weil sie sich nicht falsch verhalten wollen und dem Kind auf keinen Fall etwas Böses wollen. Es ist der Öffentlichkeit manchmal schwer zu verklickern, dass Pädophile Kinder genauso lieben können wie ein hetero- oder homosexueller Mensch das tut. Sexualität hat so viele Aspekte. Ich bin ja auch nicht mit meiner Freundin zusammen, nur weil ich Sex mit ihr möchte.

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Peter Jeschke und Jens Wagner

Pädophilie ist nicht heilbar. Was wünschen sich die Betroffenen eigentlich noch?

Wagner:
Sie wünschen sich, ihre sexuelle Neigung zu akzeptieren und damit leben zu lernen. Und sie wollen ihre Grenzen kennenlernen und wissen, wo ihre persönlichen Risikosituationen liegen.

An einer Stelle sagt der Mann im Film: „Einen normalen Mann kann man nicht von seinem Wunsch heilen, mit einer Frau eine Beziehung zu haben. Genauso ist es auch bei einem Pädophilen.“ Können Pädophile überhaupt ein erfülltes Leben führen?

Wagner:
Wir haben auch Patienten, die nicht exklusiv pädophil sind, sondern auch sexuelle Beziehungen mit Erwachsenen leben können. Der sogenannte „Kernpädophile“, der sich ausschließlich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt, muss allerdings lernen, seine Sexualität, wenn überhaupt, nur in der Fantasie auszuleben. Doch wie Peter schon angedeutet hat: Es geht nicht nur um das sexuelle Begehren. Auch Pädophile sehnen sich nach Bindung, Akzeptanz und Nähe.

Jeschke:
Und die Tragik ist einfach so groß hinter der Neigung. Sie müssen verstehen, dass das Kind keinen sexuellen Kontakt möchte und dass da zwei Welten aufeinanderprallen. Der Sexualtrieb ist ja auch nicht immer da. Ich persönlich leide ja auch nicht drunter, wenn ich mal keinen Sex habe.

Wagner:
Aber hier besteht ein großer Unterschied: Ein hetero- oder homosexueller Mann, der Frauen oder eben Männer anziehend findet, weiß, dass er seine Sexualität ausleben kann. Das kann und darf jemand, der kernpädophil ist, eben nicht. Und gerade wenn du etwas auf keinen Fall darfst, fällt es oftmals schwer, einen solchen Wunsch loszulassen. Auch dadurch entsteht Leidensdruck. Circa 10 bis 20 Prozent unserer Patienten nehmen auf eigenen Wunsch Medikamente, die die sexuellen Impulse ein Stück senken und den Kopf frei machen für andere Dinge.

Wenn es zum sexuellen Missbrauch kommt, sind die Täter immer pädophil?

Wagner:
Nein. Den vorliegenden Daten zufolge sprechen wir bei etwa 60 Prozent der sexuellen Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen von sogenannten Ersatzhandlungen. Die Täter sind hierbei nicht pädophil, sondern sexuell eigentlich auf Erwachsene ausgerichtet. Sie begehen Kindesmissbrauch, weil sie zum Beispiel eine Persönlichkeitsstörung oder eine Intelligenzminderung aufweisen. Circa 40 Prozent der sexuellen Übergriffe gegenüber Kindern haben einen pädophilen Motivationshintergrund.

Gibt es Betroffene, die mit ihrer Geschichte offen umgehen?

Jeschke:
Der Protagonist im Film zum Beispiel hat sich während seiner Therapie öfters geoutet und damit auch schlechte Erfahrungen gemacht. Es ist ein Risiko, weil du als Mensch ganz sicher gemieden wirst. Wenn der Nachbar fragt, ob du auf sein Kind aufpassen kannst, dann müsstest du eigentlich als verantwortungsvoller Mensch sagen, dass du pädophil bist. Das würde natürlich kaum jemand so sagen.

„Wir plädieren für mehr Akzeptanz der Pädophilie in der Gesellschaft. Soziale Einsamkeit ist ein Risikofaktor für das Begehen sexuellen Kindesmissbrauchs.“

Wagner:
Ich kenne allerdings viele Beispiele von unseren Teilnehmern, denen es geholfen hat, sich Familienmitgliedern oder Freunden anzuvertrauen. Sie fühlen sich dadurch erleichtert und es hilft ihnen zu wissen, dass sie jemanden haben, mit dem sie reden können. Manche Geschichten gehen einem echt nahe. Doch ich kenne auch Teilnehmer, die das noch nicht mal ihrem besten Freund erzählen würden. Aus Angst, den dadurch zu verlieren. Wir plädieren daher auch für mehr Akzeptanz der Pädophilie in der Gesellschaft. Zumal wir aus der Forschung wissen, dass gerade soziale Einsamkeit ein Risikofaktor für das Begehen sexuellen Kindesmissbrauchs ist. Das schließt in keiner Weise aus, dass wir uns ganz klar gegen jede Form der sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen positionieren und diese entsprechend verfolgen. Ich bin überzeugt davon, dass es hilfreich wäre, wenn Pädophile offener mit ihrer sexuellen Präferenz umgehen könnten.

Jeschke:
Wir müssen trotzdem dorthin schauen, wo es weh tut. Da muss man sehr genau sein, denn ein Verständnis für die Neigung bedeutet ja trotzdem nicht, dass man die sexuelle Gewalt verharmlosen möchte. Das wird einem aber oft unterstellt und wir wollen ganz sicher keine Lanze für übergriffige Pädophile brechen.

Wagner:
Da stimme ich dir zu. Ich wünsche mir mehr Offenheit bei dem Thema. Wenn Menschen um Hilfe bitten, dann sollte man ihnen auch helfen und sie nicht verurteilen.

Stigma läuft das nächste Mal am 16. Mai im Roten Salon der Volksbühne Berlin.

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