Kiss Me By The FountainWie die Vorstadt, das Auto und die Shopping Mall die feste Beziehung zu Wege brachten

fountain

Dem österreichischen Architekten Victor Gruen schwebte der „ewige Frühling“ vor, als er in den USA seine Einkaufswelten erschuf. Heute steht die Shopping Mall für endlose Parkplätze und kaputte Innenstädte. Der zeitgleich mit ihr forcierte Straßenbau sorgte für Zersiedlung und Segregation. Und: Selbst die Art und Weise, wie Beziehungen geführt werden, hat der Bauboom der Babyboomer-Zeit mitgezeitigt. Eine Architektur- und Gesellschaftskritik von Timo Daum.

Drei Säulen des American Way of Life

1956 eröffnete die erste moderne Einkaufs-Mall der Geschichte in Edina, Minnesota ihre Pforten. Das Southdale Center existiert heute noch und gilt als ältestes überdachtes und klimatisiertes Einkaufsparadies der Welt. Viktor Gruen, ein österreichischer Jude, der vor den Nazis geflohen war, hat sie geplant und entworfen. Im gleichen Jahr begann der Bau des bis heute größten öffentlichen Bauprojekts in der Geschichte der USA. Der Federal-Aid Highway Act gab den Startschuss für das Netz an interstate highways, konkret für 41.000 Meilen Straße, die innerhalb von zehn Jahren gebaut werden sollten. Bereits zehn Jahre zuvor war der „GI-act“, ein Gesetz zur Förderung von Wohneigentum, vorrangig in den Vorstädten verabschiedet worden. Pro Jahr entstanden über eine Million neue Häuser, und 1954 wurden erstmals mehr als vier Millionen neue Babys in den USA geboren.

Drei wesentliche Ingredienzen des American Way of Life traten also nahezu zeitgleich ihren Siegeszug an: die überwiegend weiße Vorstadt-Siedlung, die diese erschließende automobilen Infrastrukturen sowie die dazu passenden Kathedralen des Konsums: die Shopping-Malls. Geld war genug da: Als Folge des Nachkriegsbooms in den USA schwammen insbesondere die weiße Mittelklasse-Kids buchstäblich im Geld. Im Jahr 1956 verfügten 13 Millionen Teenager über ein wöchentliches Durchschnittseinkommen von 10,55 Dollar. Nur 15 Jahre zuvor entsprach das noch dem gesamten Einkommen der US-amerikanischen Durchschnittsfamilie. Diese automobile und Konsumfreiheit hatte noch eine weitere Folge für das soziale Leben: Als weitere Errungenschaft der Nachkriegsmoderne begann in diesem Kontext die feste heterosexuelle Beziehung ihren Siegeszug. „The steady“ wurde zum dominierenden Beziehungsmodell. Aber eins nach dem anderen.

southdale

Das Southdale Center. Foto: Bobak Ha'Eri, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons

„Meet Me by the Fountain“

So heißt das gerade erschienene Buch von Alexandra Lange, einer preisgekrönten US-amerikanischen Publizistin, die der Mall eine Hommage widmet. In ihrer hervorragend geschriebenen Feier der Mall als Begegnungsort, Traumwelt und Aufenthaltsidylle notiert sie: „Die Mall bot Freiheit. Freiheit von einem heißen Tag in Texas. Freiheit von einem langweiligen Nachmittag allein zu Haus. Freiheit von der Vereinsamung durch Alter oder Behinderung.“ Die Menschen flüchten in die Mall vor der Hitze und der unwirtlichen (Auto)-landschaft im Außen. Dort finden sie klimatisierte Räume, ganztägige Sitzgelegenheiten, preiswerte Lebensmittel und reibungslose automatische Türen, Rolltreppen und Aufzüge vor. Hier wird nichts unversucht gelassen, um den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, während im Außen – erst recht im Zuge des Klimawandels – immer weniger „frische Luft“ zum Atmen da ist.

Doch gehören diese Eigenschaften, die Lange bei der Mall so lobt, nicht gerade zu den Charakteristika eines lebenswerten öffentlichen Raums? Zu den notwendigen Eigenschaften jener dritten Orte, wie sie die Soziologie nennt, jenseits von zu Hause und Arbeitsplatz? Der Erfolg der Mall scheint so umgekehrt proportional zur Unwirtlichkeit der Außenwelt zu sein, und deren Erfolg zum Gradmesser des Verfalls des „eigentlichen“ öffentlichen Raums zu werden. Denn dieser wird zunehmend unwirtlich (gestaltet) und gehört den Autos. Langes dann doch resigniert klingendes Fazit: „Privatbesitz ist der Preis, den wir für ein bisschen Stadt zahlen, die ein bisschen leichter zu ertragen ist“.

Meet me

Meet Me by the Fountain (Affiliate-Link)

Wer hat‘s erfunden? Viktor Gruen!

Als Erfinder der Shopping-Mall gilt der Wiener Jude Viktor Gruen. Als Deutschland 1938 Österreich annektierte, emigrierte er in die USA. 1941 zog Gruen schließlich nach Los Angeles, wo er eines der erfolgreichsten Planungsbüros der damaligen Zeit gründete. 1954 entwarf er das erste Open-Air-Einkaufszentrum in einem Vorort namens Northland Center in der Nähe von Detroit, gefolgt von vielen weiteren. Gruens erste realisierte Mega-Struktur, das 74.000-Quadratmeter umfassende Southdale Center in Edina im US-Bundesstaat Minnesota, wartete mit Fontänen, Volieren und Kunstinstallationen auf. Bis heute entstanden in den USA über 1.200 solcher Malls. Niemand hat wohl so viel Verkaufsfläche geplant und gebaut wie Viktor Gruen.

Schon in seiner Wiener Zeit realisierte er avantgardistische Schaufensterlandschaften, die zum ziellosen Flanieren einluden, umgeben von glitzernden Waren. Mit zurückgesetzten Glasvitrinen setzte er eine Zwischenwelt um – nicht mehr öffentlicher Straßenraum, aber noch nicht privater Ladenraum –, die zum träumerischen Umherschweifen einlud. Dieser Trancezustand des dérive (Sich-Treiben-Lassen) in der fetischistischen Warenwelt, der sich bei Konsument:innen in einer solchen Umgebung einstellt, wird seither als Gruen-Effekt bezeichnet.

gruen

Der Vater aller Malls: Victor Gruen (auf dem Cover der Biografie „Shopping Town“, Affiliate Link)

Gruens Vision war dabei zutiefst europäisch: Er wollte den ländlichen und vorstädtischen USA, deren Bewohner:innen keine funktionierenden, gewachsenen Ortskerne kannten, mittels einer künstlichen Stadt solche liefern. Er selbst erläuterte seine Vorstellung so: „Die Geschäfte wurden von der Verkehrsstraße losgelöst und abseits von den Hauptverkehrswegen in der Mitte eines großen Areals in eine konzentrierten Gruppe zusammengefasst.“ So sollte ein lokales Zentrum entstehen, „dessen Gebäude durch Straßen, Gassen, Plätze, miteinander in Verbindung gebracht wurden. Dies ist im Grunde genommen ein Konzept, das eine Renaissance des alten europäischen Stadtkernes darstellt“, schrieb er in seinem Buch „Die lebenswerte Stadt“ von 1974. Was ihm eigentlich vorschwebte, war ein Pastiche der gewachsenen europäischen Innenstadt, ein Instant-Imitat unter der Ägide des Shoppings. Denn er hielt die Ausrichtung auf den Konsum für den Schlüssel zu einer attraktiven Stadt. Seine Biografin Annette Baldauf bilanziert:

„Gruen baute gigantische Kommerzmaschinen in den expandierenden Vorstädten und, weniger Jahre später, groß angelegte Fußgängerzonen in den vernachlässigten Downtowns. ‘Shopping Towns‘ sollten das zivilgesellschaftliche Leben in der isolierten Vorstadt stärken, Fußgängerzonen die bald völlig ausgehungerten Stadtzentren revitalisieren.“

Die Fußgängerzone ist für amerikanische Verhältnisse tatsächlich ein Novum. Daher wird US-amerikanischen Tourist:innen, die europäische Städte besuchen, auch durchaus geraten, als Reisevorbereitung das Gehen zu üben, damit sie nicht zu schnell außer Atem geraten.

Rochester (New York) – Mall und Autobahn

Eines seiner berühmtesten Projekte entstand 1962 in der Innenstadt von Rochester, New York. Midtown Plaza war das erste städtische Indoor-Einkaufszentrum in den Vereinigten Staaten, inklusive eines Parkhauses mit 1.600 Stellplätzen. Rochester ist auch die Stadt, in der Ende der 1950er-Jahre der Bau des sechsspurigen innerstädtischen Autobahnrings begann. Ziel war es, den zunehmenden Pendelverkehr in die Innenstadt aus den Vorstädten zu bewältigen und die Stadt an das landesweite Freeway-System anzuschließen. Rochester war mit dieser brachialen Politik, Autos und Pendler:innen-Verkehr den Weg zu ebnen, keinesfalls allein.

Rochester

Die Midtown Plaza in Rochester. Foto: User:LtPowers, CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons

Filling in the Inner Loop: 'Why it's so important to make this correction in our landscape'

Robert Moses, laut dem Journalisten Tom Lewis „Amerikas führender und arrogantester Planer und Straßenbauer seiner Zeit“, schrieb seinerzeit über das Highway-Programm:

„Dieses neue Autobahnprogramm wird unsere gesamte Wirtschafts- und Sozialstruktur betreffen. Das Erscheinen der neuen Arterien und ihrer angrenzenden Bereiche wird einen bleibenden Eindruck in unseren Gemeinschaften und Menschen hinterlassen. Sie werden den Rahmen bilden, in dem wir werden leben müssen.“

Edward Moses, Harper‘s Magazine, Dezember 1956

Woraufhin er sich sogleich daran machte, diese Drohung wahr zu machen. Vor allem weiße US-Amerikaner:innen flohen zunehmend aus den Städten und folgten neu gebauten Straßen in die wachsenden Vororte. Schwarzen Bewohner:innen war es jedoch weitgehend untersagt, dasselbe zu tun. Tatsächlich lebten viele Schwarze Einwohner:innen entlang der Wege der Autobahnen, während die Weißen sich in wohlhabenden Vierteln im Grünen um die Städte herum wiederfanden.

Über den segregativen Effekt des Autobahnbaus besteht mittlerweile Einigkeit. Autobahnen sind seit langem Werkzeuge der Stadterneuerung, mit denen sogenannte Slums geräumt und Städte neu formatiert werden. Zusammen mit der rassistischen Wohnungspolitik haben die städtischen Interstate Highways die Landschaft gemäß einer Ideologie der weißen Vorherrschaft neu kartiert. Diese Analyse wird durch die Beweise gut gestützt und von Historiker:innen gleichermaßen akzeptiert. Der derzeitige US-amerikanische Verkehrsminister Pete Buttigieg sprach kürzlich davon, Rassismus sei „physisch in einige unserer Autobahnen eingebaut“. Der Architekt und Architekturkritiker Michael Sorkin weist darauf hin, dass das Gleiche auch für die Mall gelte: „Das Einkaufszentrum muss schon von seinen Ursprüngen her als rassistische Form angesehen werden, geboren aus dem Kalkül, dass eine Stadt nur für Weiße sich als besserer Return on Investment erweisen würde.“ Baldauf nennt die Mall eine „kontrollierte Sicherheitszone, die zwar Urbanität simulierte, ihnen aber gleichzeitig soziale Homogenität versicherte.“ Auch Lange stellt fest: „Mit dem Vorschlag einer Innenstadt außerhalb der Innenstadt, geschützt vor Witterungseinflüssen, umgeben von Parkplätzen, konzipiert für eine einzige Nutzung und streng geplant, hatte Victor Gruen auch einen Mechanismus geschaffen, um weiße, aufstrebende Hausbesitzer vor Andersartigen zu schützen.“

Die Shopping-Malls des 19. Jahrhunderts

Viktor Gruen schreibt in seinen Memoiren über eines seiner Projekte: „Inspiriert vom orientalischen Basar und europäischen Passagen und Galerien, besonders der Galerie Vittorio Emanuele in Mailand, drängte es mich, ein modernes Zentrum mit überdachten und klimatisierten Fußgängergebieten zu schaffen. Diese Inspiration fand Ausdruck in dem Entwurf: ein großer öffentlicher gedeckter Platz mit Oberlichtern, umgeben von einem Ring aus zwei Kaufhäusern und vielen kleineren Geschäften.“

Stichwort Passage: Die Passagen des 19. Jahrhunderts in Paris und Mailand, die Gruen sich zum Vorbild seiner suburbanen Kopien im 20. Jahrhundert wählte, wurden schon früh Gegenstand der Kritik und weisen verblüffende Parallelen auf. Nach den Passagen des 19. Jahrhunderts benannte Walter Benjamin gar sein unvollendetes Hauptwerk: „…die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt“. Traumweltstürmer durch und durch, sieht Benjamin deren Zauberwirkung jedoch schon wieder im Vergehen: „Die Entwicklung der Produktivkräfte legte Wunschsymbole des vorigen Jahrhunderts in Trümmer noch ehe die sie darstellenden Monumente zerfallen waren“.

Das Phänomen der Zwischenwelten des Konsums zwischen privat und öffentlich taucht auch hier schon auf. Auch den Gruen-Effekt nimmt er vorweg, wenn er in den 1930er-Jahren beschreibt, wie die Pariserinnen und Pariser des 19. Jahrhunderts in die damaligen Zwischenwelten wie von Sirenen gelockt wurden. Auch der Springbrunnen taucht in der Gestaltungspalette der Passagen bereits auf: Benjamin schreibt:

„Will er (Der Pariser) jedoch die ganze gesellige Stille eines öffentlichen Mahles genießen, so wendet er sich nicht in eins der altberühmten, noch weniger der neuen schicken Restaurants sondern er sucht in einem entlegenen quartier die neue Pariser Moschee auf. Dort findet er neben dem inneren Garten mit seiner Fontäne....“.

Womit wir bei den für Jessica Langes Buch titelgebenden Fontänen wären. Die Mall erscheint so als billige Kitsch-Imitation der bereits hohlen und schalen Originale. Die Geschichte der Passagen wiederholt sich in der Shopping Mall – als Farce, könnte man in Anlehnung an Marx sagen.

Die Erfindung der festen Beziehung

Gruens Biografin Annette Baldauf macht auf einen wichtigen Aspekt der Mall aufmerksam: Diese diente auch der „Eindämmung“ von Frauen, die sich nach der Rückkehr der Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg „aus dem Erwerbsmarkt zurückziehen und ihre Arbeitskraft in Kindererziehung, Hausarbeit – die sogenannte „labor of love“ – und Konsum investieren sollten.“ „Labor of Love“ ist auch der Titel eines Buchs von Moira Weigel aus dem Jahr 2016. In ihrer amüsant zu lesenden Geschichte der Partnerwahl in den USA des 20. Jahrhunderts beschreibt Weigel, wie the steady – also die öffentlich demonstrierte, eine Zeitlang dauernde feste Beziehung mit Partner:innen – sich in den USA erst in den 1950er-Jahren durchzusetzen beginnt.

Heute kennen wir die Debatte um neue Dating-Formen, die das Internet ermöglicht hat, und die von Michel Houlellebecq als Neoliberalismus der Liebe bezeichnet werden, und der die Soziologin Eva Illouz ganze Bücher gewidmet hat. Doch auch das Modell der vorehelichen, heterosexuellen „festen Beziehung“, oder seriellen Monogamie, die derzeit durch OKCupid, Tinder und dergleichen anscheinend erodiert wird, ist selbst ein relativ junges Phänomen. Und es wurde, schenkt man Moira Weigel Glauben, im Kontext von Suburbia, der Mall und den Big-Spender-Kultur der US-amerikanischen Nachkriegszeit geboren. „In den 1950ern konnten es sich viel mehr junge Leute leisten, tanzen, Burger essen oder ins Kino zu gehen“, schreibt sie. Und genau das taten sie zuhauf, sie fuhren mit Papas Auto in eine von Gruens Konsumwelten und gaben ihr Geld dort aus. Doch das veränderte auch ihr Liebesleben: Das Modell, das „the steady“ ablöste, war „rating and dating“. Dieses Modell sah eine Phase des Ausprobierens verschiedener Dating-Partner:innen vor, die der Auswahl und anschließenden Heirat von Mr. und Mrs. Right vorausging. Rating und Dating war Weigel zufolge über Generationen in der weißen Mittelschicht gang und gäbe und aus der Not geboren, gewissenhaft bei der Wahl des Ehepartners vorzugehen.

Doch wie kam es zu diesem Wechsel im Dating-Verhalten der US-amerikanischen Nachkriegsjugend? Weigel argumentiert, die historisch einmalige Prosperität hätte die Mittelschichtskids vom Druck befreit, eine gute Partie machen und schnell unter die Haube kommen zu müssen. Vollbeschäftigung in den Fabriken und Büros der USA in der Nachkriegszeit und der Beginn des Massenkonsums industriell produzierter Güter hätte ihre Entsprechung im bevorzugten Beziehungsmodell des steady, einer Art „romantischen Vollbeschäftigung“, gefunden. Weigel zeigt, wie die feste heterosexuelle Partnerschaft in einer bestimmten sozio-ökonomischen Situation erst entstehen konnte – und mit ihr eine ganze Reihe an Begleiterscheinungen wie dem „Schlussmachen“, gleichfalls eine Erfindung aus dieser Zeit, und dem Austausch von Verlobungsringen – ein Konsumbedürfnis, dem die Shopping Mall nur zu gerne ein passendes Angebot lieferte.

Gruens späte Erkenntnis

Zurück zu Gruen. Er begann in den 1960er-Jahren, schreibt seine Biografin Baldauf, seine Fehleinschätzung zu erkennen. Erst später wurde Gruen klar, dass diese Simulation einer kleinstädtischen – heute würde man sagen Fünf-Minuten-Stadt – Auswirkungen haben würde. Nach innen, aber auch nach außen – mit den riesigen Parkplätzen zu Beispiel. Es entstand ein positiver Rückkopplungseffekt bzgl. der Zersiedelung, Suburbia und Segregation. Aus gleich zwei Gründen drohte sein Versuch, europäisches Flair in die USA zu exportieren, zu scheitern. Erstens wurden die von ihm konzipierten künstlichen „europäischen“ Stadtzentren zu wahren Monstern des Flächenverbrauchs, zu grellen Vergnügungsparks, zu Ghettos für die weiße Mittelschicht, nur für Weiße gedacht, nur mit dem Auto zu erreichen. Der Architekturkritiker M. Jeffrey Hardwick stellte fest, dass „Gruen nie einen Weg gefunden hatte, ein Einkaufszentrum zu schaffen, das keine Insel in einem Meer von Parkplätzen war.“

Und zweitens führten sie obendrein noch zur Verödung bestehender, funktionierender Innenstädte. Denn was in der Vorstadt als chic und modern galt, wurde auch bald für die Stadtzentren zum Modell der Wahl. Dass sein Modell nicht nur auf dem Land unerwünschte Nebeneffekte zeigte, sondern zusätzlich seine Verbreitung auch in Städten mit funktionierenden Stadtzentren dazu führte, dass diese verödeten, frustrierte ihn zutiefst. Baldauf schreibt:

„Als sogenannter Vater der Shopping Mall muss er im Alter erkennen, dass seine Erfindung als zentrifugale Kraft Stadtentwicklungstendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich vorantrieb. Sie unterstützte die Flucht in die Vorstadt und die allgemeine Abhängigkeit vom Individualverkehr, inklusive den daran gehefteten ökologischen und planerischen Folgewirkungen. Als ehemaliger Proponent des Konzepts verdichteter neuer Stadtzentren außerhalb der bestehenden Stadtstruktur muss er erkennen, dass radikale Interventionen eingebettet waren in die weitläufige strukturelle Vernachlässigung der Innenstadt, indem sie bestehende, organisch gewachsene Stadtstrukturen diskriminierte.“

Am Ende seines Lebens distanzierte sich Gruen von dem Monster, das er geschaffen hatte. In einer Rede in London rechnete er 1978 schonungslos mit seinem Lebenswerk ab: Seine Idee sei „bastardisiert“ worden, sagte er, und weigerte sich, „jegliche Verantwortung“ dafür zu übernehmen.„I’m often called the father of the shopping mall. I would like to take this opportunity to disclaim paternity once and for all. I refuse to pay alimony to those bastard developments. They destroy our cities.”*. Gruen starb am 14. Februar 1980 in Wien.

Autobahn, Vorstadt und Mall – ein toxischer Cocktail

In Berlin lässt sich der Effekt z.B. am Alexanderplatz bewundern, wo ein Stück Brandenburger Speckgürtel-Architektur, eine überdimensionierte Resterampe, die auf den Namen „Alexa“ hört, zu bewundern ist. Stichwort Alexa – so heißt bekanntlich auch die digitale Einkaufsassistenz-Instanz, mit der über Sprache in den Devices des Amazon-Konzerns „gesprochen werden“ kann.

Amazon ist vielleicht ironischerweise die nächste Erfindung des Kapitalismus, die andere Alexa im Digitalen, die ihr über kurz oder lang das Wasser abgraben wird. Die letzte Erfindung des Kapitalismus ist – frei nach Ernst Bloch – schließlich immer die beste. Möglicherweise läutet diese Alexa – Stichwort Online-Shopping – das Ende der gebauten Kitsch-Alexas dieser Welt ein und am Rückbau allesamt der Traumwelten einer bald vergangenen konsumistischen Epoche Anteil hat, dabei freilich emsig an der nächsten baut.

Wenn wir in Berlin demnächst gegen den Weiterbau einer innerstädtischen Autobahn auf die Barrikaden gehen, wozu der Autor hiermit explizit aufruft, sollten wir vielleicht auch gleich den Rückbau von innerstädtischen Shoppingmalls auf die Agenda setzten. Diese gehören, wie wir gesehen haben, genauso zur automobilen Nachkriegsmoderne wie die Vorstadt selbst. Folgten wir Moira Weigels Logik, müsste dann auch gleich die feste Beziehung zurückgebaut werden …

Quellen:
Alexandra Lange: Meet Me by the Fountain. An Inside History of the Mall. London 2022.
Tom Lewis:. Divided Highways: Building the Interstate Highways, Transforming American Life. Cornell edition. Ithaca: Cornell University Press, 2013.
Moira Weigel: Labor of Love. The Invention of Dating. Farrar, Straus and Giroux, New York 2016.
Gruen, Victor, und Anette Baldauf. Shopping Town ; Memoiren Eines Stadtplaners (1903 - 1980). Wien: Böhlau, 2014.
Sorkin, Michael. Variations On a Theme Park: The New American City and the End of Public Space. 1. publ., 17. [print.]. New York, NY: Hill and Wang, 1992.
Walter Benjamin, »Das Passagen-Werk«. In: Gesammelte Schriften. Band V. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982.
Gruen, Victor. Die Lebenswerte Stadt: Visionen Eines Umweltplaners. München: List, 1975.
Viktor Gruen: Shopping Centers. Why, Where, How? Rede bei „Third Annual European Conference of the International Council of Shopping Centers“, London 28.2.1978, LoCPVG, box 78.

Verletzliche MaschinenDie dänische Musikerin Sofie Birch im Interview

Hochspezifisch, breit gefächertSo war das Meakusma-Festival