„Das Chaos regiert!“ – Zwischen Drogenkrieg und Olympia-GoldInterview mit Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl vom BuzzingCities Lab
16.8.2016 • Gesellschaft – Interview: Ji-Hun Kim, Fotos: Buzzing Cities LabDrogenkrieg, Polit-Chaos, eine Favela-Goldmedaille und Social Media gegen Polizeigewalt: Rio 2016 ist für die Favelas mehr als ein Sportevent. Die Auslandsreporterinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl vom BuzzingCities Lab berichten seit mehreren Jahren aus Rios Favelas und verfolgen jetzt das Geschehen rund um die Olympischen Spiele – aus der Rocinha, Rio de Janeiros größter Favela. Über Chaos, Heftpflasterlösungen – und wieso es bei Rio 2016 noch schlimmer zugeht als bei der Fußball-WM vor zwei Jahren.
Bei den Olympischen Spielen hat Rafaela Silva, Judo-Kämpferin aus einer Favela, die erste Goldmedaille für Brasilien gewonnen. Wie ist die Stimmung in Rios Favelas jetzt?
Julia Jaroschewski: Favelabewohner aus ganz Rio sind stolz darauf, dass eine Sportlerin aus einer Favela Gold gewonnen und bewiesen hat, dass eine schwarze Frau aus einer Favela es ganz nach oben schaffen kann. Die Cidade de Deus, in der Rafaela aufgewachsen ist, war durch den bekannten Film „City of God“ lange Synonym für Drogenkrieg und Gewalt – jetzt hat die Cidade de Deus auch eine Goldmedaillengewinnerin hervorgebracht, ein neues Vorbild.
Sonja Peteranderl: Das bedeutet aber nicht, dass jeder es schaffen kann. Die Favelabewohner kritisieren auch, dass Rafaela eben erst jetzt von allen Seiten bejubelt und vereinnahmt wird – sie musste lange gegen Rassismus und Ausgrenzung kämpfen. Sie wurde etwa online rassistisch beleidigt und als „Affe“ beschimpft, nachdem sie bei den Olympischen Spielen in London disqualifiziert worden war. Fast hätte sie mit dem Sport aufgehört.
Welche Rolle spielt bei den Brasilianern, vor allem in Rio, die Olympiade überhaupt?
Julia Jaroschewski: Manche haben den Zug der Olympischen Fackel begeistert verfolgt, es gab aber auch massive Proteste gegen die Spiele. Die Meinungen sind geteilt, 60 Prozent der Brasilianer glauben aber laut einer aktuellen Studie, dass die Spiele dem Land mehr schaden als nutzen. Generell ist die Unzufriedenheit gestiegen. Die Politiker versuchen natürlich, die Olympischen Spiele als Ablenkung vom politischen Chaos zu nutzen. Das neue Hafengebiet, das Museu do Amanhã und neue Metrolinien werden eingeweiht und gefeiert – das sind positive Entwicklungen für Rio, auch über die Spiele hinaus. Aber Finanzmittel fehlen an allen Stellen. Damit die Spiele stattfinden können, wurden extra Finanzgesetze geändert und so Bundesmittel freigegeben. Nach den Spielen kommt die echte Krise: Dann wird auch das laufende Impeachment-Verfahren gegen die vom Amt enthobene Präsidentin Dilma Rousseff entschieden. Sie bezeichnet ihre Amtsenthebung als Putsch. Ein Anlass für eine erneute politische Schlammschlacht und auch Proteste der Pro- und Kontra-Dilma-Lager.
„2014 hatten die Brasilianer noch Hoffnung, dass sich vieles verbessern könnte. Jetzt wird immer sichtbarer, wie katastrophal die Situation tatsächlich ist.“ (Julia Jaroschewski)
Regierungskrisen, Zika, Proteste der Polizei. Wie lässt sich die allgemeine Situation in Brasilien gerade beschreiben?
Julia Jaroschewski: Man hat das Gefühl, dass das Chaos in Rio de Janeiro regiert. Jeden Tag gibt es neue schlechte Nachrichten. Alles dreht sich gerade nur um die Olympischen Spiele, dabei steckt das Land in einer großen Krise. Rio meistert die Spiele natürlich, trotz der Skepsis im Vorfeld. Aber der große Triumph, der für 2016 geplant war, bleibt aus. Viele Menschen haben ganz andere Probleme. Mit der Wirtschaftskrise wurde ein harter Sparkurs in vielen Bereichen angesetzt: Schulen und Universitäten haben vor kurzem gestreikt, weil zu wenig öffentliche Mittel zur Verfügung stehen.
Sonja Peteranderl: Auch Zika hat gezeigt, wie angeschlagen das brasilianische Gesundheitssystem ist. Polizei und Militärs wurden ebenso wie Lehrergehälter verspätet bezahlt. Angesichts der Terrorgefahr wurden zwar jetzt Sicherheitskräfte aus dem ganzen Land in Rio zusammengezogen, im Polizeialltag fehlt es aber an Personal und Ressourcen, die Ausrüstung ist zum Teil marode.
Im Vergleich zur WM 2014 – ist die „Stimmung“ besser oder schlechter?
Julia Jaroschewski: Schlechter. 2014 hatten die Brasilianer noch Hoffnung, dass sich vieles verbessern könnte. Schon damals gab es Proteste gegen Korruption, die Verschwendung von Mitteln, die bei der Gesundheitsversorgung und Bildung fehlen. Jetzt wird immer sichtbarer, wie katastrophal die Situation tatsächlich ist: Die politischen Lager bekriegen sich, der Korruptionsskandal zieht sich durch alle Parteien. Auch Olympiastätten sind betroffen.
Sonja Peteranderl: Die Folgen von jahrzehntelangem Missmanagement und Korruption werden gerade erst richtig wahrnehmbar, zumindest die Spitze des Eisbergs. Auch die sozialen Konflikte der Stadt sind ungelöst.
„Zentrale Vorhaben wurden nicht realisiert. In den Favelas ist die größte Beschwerde, dass es immer noch kein Kanalisationssystem gibt.“ (Sonja Peteranderl)
Thema Pfusch am Bau. Was gibt es bislang zu dem Thema im Zusammenhang mit der Olympiade zu berichten?
Sonja Peteranderl: Viele Bauprojekte wurden überteuert und zu spät fertiggestellt. Eine Tragödie, die zum Symbol für Fehlplanung geworden ist, war der Einsturz des Fahrradweges an der Avenida Niemeyer, am Meer entlang. Eine Welle hat einen Teil des Weges heruntergerissen, zwei Menschen sind gestorben.
Julia Jaroschewski: Mehrere Straßen sind nach der Eröffnung direkt abgesackt. Viele Olympiastätten und Bauprojekte sind von Korruptionsskandalen betroffen, selbst die Gondelbahn über den Favelas im Complexo do Alemao im Norden von Rio.
Wie nachhaltig sind die infrastrukturellen Projekte, vor allem in den Favelas?
Julia Jaroschewski: Einige Projekte sind sinnvoll: Der Sportkomplex in der Favela Rocinha, der Tennisplatz oder die Bibliothek sind extrem wichtig für die Kinder und Jugendlichen, die vorher kaum Freizeitmöglichkeiten hatte. Ohne die WM und die Spiele wäre vermutlich nicht im selben Umfang in Favelas investiert worden. Der Park in der Rocinha, mit Barbecue-Plätzen und Kletterwänden direkt neben dem Polizeiquartier der UPP (der Besetzungspolizei, Anm. d. Red.) verfällt dagegen – er wurde nicht angenommen.
Sonja Peteranderl: Wirklich zentrale Vorhaben wurden nicht realisiert, so wie die angestrebte Wasserreinigung der Guanabara-Bucht von Rio und ein Abwassersystem, das die ganze Stadt abdeckt. Müll, Industriemüll und Abwasser fließen ins Meer. Auch in den Favelas ist die größte Beschwerde, dass es immer noch kein Kanalisationssystem gibt. Die offenen Abwasserkanäle und Müllhalden direkt neben Häusern bergen ein immenses Gesundheitsrisiko auch bei der Verbreitung von Zika.
Zur WM 2014 gab es zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen in den Favelas. Was ist davon geblieben?
Julia Jaroschewski: Um die Stadt vor den Megaevents WM 2014 und Olympia 2016 sicherer zu machen, wurden in mehr als 200 Favelas sogenannte UPP-Einheiten installiert. Die Besetzungen fanden vor allem in der wohlhabenden Südzone von Rio und in der Nähe touristisch relevanter Orte statt – also als eine Art Make-up für die Spiele. Allerdings hatten viele Favelabewohner, die jahrzehntelang von Drogengangs regiert wurden, tatsächlich die Hoffnung, dass der Staat sich um die Favelas kümmert und sie endlich zu normalen Stadtvierteln werden. In Favelas wie der Rocinha oder dem Complexo do Alemão sind stattdessen neue Konflikte ausgebrochen. Die Gangs erobern ihr Territorium zurück, seit Wochen finden fast täglich Schießereien statt. Das Vertrauen in die Sicherheitskräfte ist gerade minimal, nach zahlreichen Folterskandalen, aber auch nach von der Polizei erschossenen Favelabewohnern. Brasilien hat ein noch massiveres Problem mit Polizeigewalt als die USA.
Sonja Peteranderl: Um gegen Olympia und die Militarisierung zu protestieren, haben Favelabewohner im Alemão vor kurzem eine blutende Fackel durch die Favelas getragen. Viele zweifeln auch, ob die UPP nach Olympia überhaupt bleiben wird. Angesichts der fehlenden Budgets und der ganzen Probleme: eher nicht.
Ihr seht Potentiale in sozialen Medien, um solche Probleme sichtbar zu machen. Inwiefern?
Sonja Peteranderl: Digitale Medien und Smartphones können in Favelas überlebenswichtig sein. Das Internet zeigt die Konflikte und ei Gewalt, der Polizei, aber auch der Drogengangs. Und soziale Netzwerke wie Facebook, Online-Bürgermedien und Apps warnen vor Schießereien.
Julia Jaroschewski: Online konnten sich Bewohner verschiedener Favelas in den letzten Jahren zunehmend vernetzen und sich gemeinsam gegen strukturelle Probleme wie Polizeigewalt organisieren oder Forderungen an die Regierung durchsetzen. Zahlreiche neue digitale Initiativen und Favela-Apps sind entstanden, und Stimmen von Aktivisten aus den Favelas, auch ihre Kritik an den Sportevents, wurden mit dem Internet einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Digitales Beweismaterial wie Fotos oder Videos führen jetzt außerdem dazu, dass nach Tötungen durch die Polizei in Favelas öfter ermittelt wird.
Immer wieder wurden in Brasilien soziale Netzwerke wie WhatsApp und Facebook von der Regierung gesperrt. Wieso?
Julia Jaroschewski: Facebook selbst wurde noch nicht gesperrt, das war bisher nur eine Drohung. Die brasilianische Justiz führt aber aufgrund von WhatsApp einen Kleinkrieg gegen Facebook: WhatsApp wurde innerhalb von acht Monaten dreimal blockiert. Es geht vordergründig um einen Cybercrime-Fall, in dem WhatsApp nicht kooperiert oder kooperieren kann, zeigt aber auch, in welchem Umfang ein Land private Tech-Unternehmen kontrollieren kann.
Sonja Peteranderl: WhatsApp soll zur Herausgabe von Kommunikationsdaten von Kriminellen gezwungen werden. Daten, die das Unternehmen nach eigenen Angaben nicht besitzt. Immerhin haben sicherere Messenger als WhatsApp durch die Blockaden neue Kunden gewonnen und manche beginnen, über nicht-kommerzielle Kommunikationskanäle nachzudenken.
Was ratet ihr persönlich Rio-Reisenden? Es ist die Rede von falschen Polizisten, die Touristen ausrauben. Wem kann man trauen?
Julia Jaroschewski: Rio hat eine hohe Kriminalitätsrate. Die Sicherheitskräfte sind mit organisierter Kriminalität wie Drogengangs und Raubkommandos oft überfordert. Falsche Polizisten inszenieren hin und wieder Fake-Verkehrskontrollen, um Autofahrer auszurauben. Touristen müssen sich aber eher auf Straßenkriminalität, wie Diebstahl oder Überfälle einstellen, auch am Strand, etwa an der Copacabana. Man sollte grundsätzlich keine wertvollen Ringe, Kameras oder Handys zur Schau stellen, aufmerksam sein und keine Gegenwehr leisten, wenn etwas passiert, da Täter bewaffnet sein können.
Sonja Peteranderl: Während der Olympischen Spiele wurde die Polizeipräsenz zwar an den von Touristen frequentierten Orten massiv verstärkt. Trotzdem kommt es immer wieder zu Diebstahl und Überfällen. Temporäre massive Polizeipräsenz ist eine klassische brasilianische Heftpflaster-Lösung – sie beseitigt das Kriminalitätsproblem natürlich nicht nachhaltig.