Die Digitalisierung der Kameras hat viele Auswirkungen auf das Kino gehabt und hat es noch immer. Unser Film-Autor Tim Schenkl erklärt die DSLRisierung der Cinematographie, die wahren Postproduction-Potentiale von 4K-Filmen und wieso ein Film besser ist als keiner.
In einem Eintrag seines Online-Notizbuchs Parallel Film schreibt der Berliner Regisseur Christoph Hochhäusler über eine Szene aus seinem Spielfilm „Unter dir die Stadt“, in der die beiden Hauptdarsteller Nicolette Krebitz und Robert Hunger-Bühler in einem edlen Restaurant gemeinsam Kaffee trinken. Hochhäusler berichtet, dass die Szene vorwiegend in halbtotalen Einstellungen gedreht wurde und die eingeschnittenen Großaufnahmen erst durch digitale Zooms in der Postproduktion zustande gekommen seien. Möglich wurde dies durch die für die Dreharbeiten verwendete RED ONE-Kamera. Diese generiert digitale Filmbilder in 4K-Auflösung, deren Pixeldichte viermal so hoch ist wie die eines HD-Fernsehers oder die der meisten digitalen Kinoprojektoren. Dadurch bietet sich für die Filmemacher in der Postproduktion die Möglichkeit, für den Rezipienten nahezu unmerklich Re-Kadrierungen, digitale Zooms und prinzipiell auch Kamerabewegungen vorzunehmen.
Ausgehend von dieser technischen Prämisse stellt Hochhäusler Überlegungen zu möglichen neuen Ästhetiken und Produktionsabläufen des Digital Cinemas an. Dabei entwickelt er die Vorstellung von einer Mastershot Coverage Technique, einer möglichen Form des Filmemachens, die große Teile der erzählpraktischen Arbeit vom Set in den Schneideraum verlegt. Im Rahmen konventioneller Dreharbeiten wird eine Szene häufig erst als totaler Mastershot aufgezeichnet und dann werden Kamera und Licht umgebaut, um Close-ups aufzuzeichnen zu können. Für Hochhäusler erscheint es dahingegen durchaus vorstellbar, bei zukünftigen Filmprojekten bestimmte Szenen nur noch als hochaufgelösten Mastershot zu drehen – eventuell sogar gleichzeitig mit zwei Kameras, die in einem 90°-Winkel zueinander stehen – und sich dann erst in der Postproduktion für die Art der szenischen Auflösung zu entscheiden. Davon verspricht sich der Regisseur vor allem die Möglichkeit intensiverer Schauspielarbeit, da Szenen nicht mehr so häufig wiederholt werden müssten, was wiederum zu nicht unerheblichen Zeiteinsparungen während der Dreharbeiten führen würde.
Verflachung der Bilder
Hochhäusler ist sich aber auch der Gefahren, die eine solche erzählerische Praxis mit sich bringt, durchaus bewusst. Er prognostiziert eine „Verflachung“ der Bilder, wie sie auch der Einsatz des Zooms im Gegensatz zur Kamerafahrt zur Folge hat. Außerdem befürchtet er, dass es aufgrund der begrenzten Möglichkeiten zu einer stärkeren Monotonie in der Bildsprache kommen könne, eine Voraussage, die für große Teile deutschen Filmschaffens eigentlich kaum noch möglich erscheint.
Auch wenn man dem Zusammenspiel von Bildern unterschiedlicher Qualität auf der Leinwand in gewissen Situationen durchaus eine Reiz abgewinnen kann, scheint der Vorschlag Hochhäusler technisch zumindest wenig zukunftssicher zu sein. Es wäre interessant zu beobachten, welche Affekte sich beim Zuschauer einstellen, wenn dieser „Unter dir die Stadt“ in 4K-Auflösung betrachtet, dem künftigen Standard des Kinos und des Home-Entertainments, und der Close-up des weiblichen Stars nicht mehr, wie seit Stummfilmtagen gewohnt, durch besonderes aufwändige Lichtsetzung und extra akkurates Make-up, sondern durch auffallend große Pixel und geringen Schärfeneindruck heraus sticht.
Dies soll jedoch nicht als Zurückweisung von Hochhäuslers Mastershot Coverage Technique verstanden werden. In den richtigen Händen könnte diese Methode sicherlich zu interessanten Ergebnissen führen. Die Gefahr der nicht gegebenen Zukunftssicherheit teilt ein solches Projekt darüber hinaus mit einem großen Teil digital gedrehter Filme, die mit Kameras entstanden sind, die nicht in 4K sondern in 2K bzw. mit einer Auflösung von 1980×1080 Pixeln aufzeichnen. In Zeiten immer weiter steigender Megapixelzahlen im Kamerasensor-Bereich dürfte dies aber nicht mehr lange ein Problem darstellen und es wäre zu wünschen, dass Hochhäuslers Hoffnung, die durch die Mastershot Coverage Technique eingesparte Drehzeit für die Schlüsselszenen eines Films nutzen zu können, in der Realität auch umzusetzen ist und eine Etablierung dieser neuen Technik letztendlich nur zu weniger Drehtagen, besonders für niedrig budgetierte Filme, führt.
Digital ist alles
Während Hochhäuslers Vision für ein digitales Kino nach dem Prinzip: Aus eins mach zwei funktioniert, lässt sich an der amerikanischen „Qualitätsserie“ aber auch am zeitgenössischen Blockbuster-Kino eher die digitale Formel „One plus One“ ablesen. Während die Umstellung vom 35mm-Film zu digitalen Aufnahmeformaten in der amerikanischen Fernsehserie so gut wie vollzogen scheint, rückt nun ein neues Phänomen in den Vordergrund, das eng mit der Einführung der fast schon legendären digitalen Spiegelreflexkamera Canon 5D Mark II zusammenhängt. Diese eigentlich hauptsächlich zum Aufnehmen von Fotos konzipierte Kamera verfügt über eine Videofunktion, die digitale Filmdateien in Spielfilmqualität produziert.
Während der Mehrkamerabetrieb in der amerikanischen Fernsehserie und im Blockbuster-Kino aus Gründen der Zeiteffizienz und des Versprechens von einer perfekten Kombinierbarkeit der verschiedenen Kamerawinkel im Schnitt auch schon in Zeiten des analogen Filmmaterials durchaus üblich war, bieten sich für die Schnittmeister momentan mehr Wahlmöglichkeiten denn je. Denn bei einem Preis von unter 3.000 Euro für Kamera plus Objektiv bietet die 5D Mark II ein Preis-Leistungsverhältnis, das in der professionellen Filmproduktion, wo die Anschaffungskosten für Kameras weiterhin zumeist im fünf- bis sechsstelligen Bereich liegen, vor einigen Jahren noch unvorstellbar schien. Dies führt dazu, dass immer mehr Kameras gleichzeitig am Set zum Einsatz kommen.
So setzte der britische Kameramann Seamus McGarvey bei den Dreharbeiten zu „Marvel’s the Avengers“ bei einigen Action-Sequenzen zusätzlich zu den verwendeten Arri-Alexa-Kameras noch bis zu sieben digitale Canon-Spiegelreflexkameras (DSLRs) ein, die ihm nicht nur zusätzliche Einstellungen lieferten, sondern auch solche, die mit herkömmlichen Kameras aufgrund ihrer Größe und dem zu hohen finanziellen Risiko teilweise gar nicht möglich wären.
Auch bei der von Michael Mann und David Milch kreierten HBO-Serie „Luck“ herrscht der Multi-Perspektivismus, der immer mehr zum Standard digitalen, filmischen Erzählens zu werden scheint. Abgesehen von dem Piloten, für den Mann, der mit Filmen wie „Miami Vice" und „Public Enemies“ zum Pionier des digitalen Mainstream-Kinos wurde, überraschenderweise zum analog Film zurückkehrte, wurde „Luck“, mit Ausnahme einiger High-Speed Aufnahmen, komplett digital produziert. Besonders bei den Szenen auf der Pferde-Rennbahn kommt es dabei zum gehäuften Einsatz der revolutionären Fotokameras 5D MARK II und ihrem kleinen Bruder, der Canon 7D.
Schon bei Serien wie „House MD“, „24“ und „True Blood“ haben videofähige, digitale Spiegelreflexkameras dabei geholfen, dem Zuschauer neue Perspektiven zu eröffnen, ohne dabei die Produktionskosten zu strapazieren. In den Rennbahn-Sequenzen in „Luck“ reizen die Filmemacher die neuen digitalen Möglichkeiten nun geradezu exzessiv aus. Nach Angaben Stuart Dryburghs, eines der Kameramänner der Serie, wurden die Pferderennen in „Luck“ fast ausschließlich mit DSLRs gedreht. Dabei liefen die meiste Zeit gleich diverse Kameras gleichzeitig. Die meisten befanden sich auf einem Kamerawagen, der parallel zu den Jockeys auf ihren Pferden das Rennen begleitete.
Einige der extrem leichten Kameras wurden an vertikal beweglichen Stangen befestigt. Sie waren so in der Lage, Reitern und Pferden äußerst nah zu kommen. Weitere Kameras befanden sich auf Stativen auf dem Kamerawagen oder wurden von Kameramännern auf der Schulter gehalten. Zusätzlich waren weitere unbemannte Kameras am Auto montiert bzw. an sicheren Stellen mitten auf der Rennbahn platziert. Michael Mann und seinen Mitstreitern gelingt es so, eine Flut an Bilder zu generieren, die dem Zuschauer das Pferderennen als unmittelbar erlebbares Spektakel aus Dramatik, Kraft und Geschwindigkeit präsentiert. Leider scheinen die Filmemacher in „Luck“ jedoch nicht nur die Multi-Perspektivität an ihre Grenzen getrieben zu haben. Nachdem das dritte Pferd während der Dreharbeiten zu Tode gekommen war, entschied sich HBO, die Serie nach nur einer Staffel wieder einzustellen.
Der Übergang
Während der Übergang zur Digitaltechnik es kommerziell arbeitenden Filmschaffenden kostengünstig ermöglicht, neben dem Bild der A-Kamera auf eine oder mehrere weitere Perspektiven zurückgreifen zu können, besteht der eigentliche revolutionäre Aspekt des Digital Cinemas vor allem darin, dass es kreatives Filmschaffen in einer technischen Qualität zulässt, die zu Filmzeiten nur mit der Unterstützung größerer Teams und substantiellem finanziellen Aufwand möglich war. Einer der produktivsten und in vielerlei Hinsicht interessantesten Regisseure, der sich mit seiner sehr eigenen, erfrischenden Art des digitalen Low-Budget-Kinos einen Namen gemacht hat, ist der französische Musiker und Do-it-yourself-Filmemacher Quentin Dupieux. Nach den frustrierenden Dreharbeiten zu seinem Langfilmdebüt „Steak“ (2007) und den verheerenden Kritiken in den meisten französischen Zeitungen, nahm sich der vor allem unter dem Pseudonym Mr. Oizo bekannte Dupieux eine Auszeit vom Filmgeschäft und trat vorübergehend wieder vorwiegend als Musiker und DJ in Erscheinung.
„Steak“, ein zutiefst idiosynkratisches Werk, das völlig unprätentiös wie eine neuartige Mischung aus amerikanischen High-School-Filmen und „Clockwork Orange“ daher kommt, wurde auf 35mm-Film gedreht und entstand unter konventionellen Produktionsbedingungen in Kanada.
Entnervt von den langsam voranschreitenden und kostenintensiven Dreharbeiten entschloss sich Dupieux 2009, sein neues Projekt „Rubber“ (FR, 2010) mit minimalen Produktionsmitteln auf einer Canon 5D MARK II zu realisieren. Bei den 14-tägigen Dreharbeiten fungierte er selbst als Kameramann und war später auch für den Schnitt und den Soundtrack des Films verantwortlich. Diese Arbeitsweise behielt er auch bei seinen beiden Folgeprojekten bei: in „Wrong“, der 2012 beim Sundance Festival seine Premiere feierte, und in „Wrong Cops“, in dem Marilyn Manson eine Hauptrolle spielt und dessen erste Episode im Rahmen des letztjährigen Cannes Film Festivals zu sehen war. In vielerlei Hinsicht stehen Dupieux’ spätere Filme daher stellvertretend für die große Anzahl von in den letzten Jahren entstandenen, minimal budgetierten Filmprojekten, die durch die digitalen Techniken in dieser Form überhaupt erst möglich wurden und deren Motto zu lauten scheint: Ein Film ist besser als keiner!