Die Zukunft des Kuratierens?Was wir von Mixtapes lernen können
4.3.2015 • Kultur – Text: Don MacKinnon, Übersetzung: Theresa GerlachWir können in Zeiten von Social Media und digitaler Dauerbeschallung einiges vom guten alten Mixtape lernen, findet der amerikanische Musikliebhaber und Unternehmer Don MacKinnon. Denn im Kern haben sie mehr gemein, als die meisten denken. Dabei geht es aber vor allem um die Idee. Denn MacKinnon findet: Die Art und Weise wie wir früher Mixtapes aufgenommen und gehört haben, verriet bereits viel von unserem heutigen Alltag in den sozialen Netzwerken.
Für die meisten sind sie heute kaum mehr als ein kultureller Anachronismus. Etwas kurzlebig Seltsames, aus der Zeit zwischen analogen Vinyl-Alben und digitalen Dateien. Ich behaupte allerdings, dass das Mixtape der Anfang von allem war. Ok, das schießt vielleicht etwas über das Ziel hinaus. Wie wär's damit: In der Art und Weise, wie wir einst Mixtapes aufgenommen und verwendet haben, findet sich ein erstes Aufflackern unseres heutigen Umgangs mit Social Media. Wenn man zurückblickt und darüber nachdenkt, warum sie so eigentlich beliebt waren – wie toll es war, sie zu mixen oder beschenkt zu bekommen – erkennen wir den Verlust, den wir mit dem technischen Fortschritt und dem Wechsel zu feed-basierten Formaten unserer heutigen „social world“ erlitten haben.
Also, hoch lebe das Mixtape! Es gibt etwas über die Zukunft zu lernen.
Mir ist klar, dass die meisten Menschen in sozialen Netzwerken heutzutage noch nicht einmal wissen, was eine Kassette überhaupt ist – abgesehen vom Retro-Design des Hipster-iPhone-Cases. Und sie wissen auch nicht, was uns die Kassette alles beschert hat. Dinge, die wir heute für selbstverständlich erachten.
Aber es gab Zeiten, in denen Songs, wie von Bernstein umschlossen, auf Vinyl-Alben gefangen waren. Die Kassette rettete sie.
Tapes sind in jeglicher Hinsicht technologisch minderwertig. Furchtbarer Klang. Horrorfilmgeräusche beim Vorspulen. Die Tendenz – in entscheidenden zwischenmenschlichen Momenten des Heranwachsens – Bandsalat zu produzieren. Vinyl mag wieder populär sein, bei der Kassette ist ein ähnliches Comeback nicht zu erwarten.
Tapes schrieben auf magische Weise Geschichte: Sie lösten einzelne Lieder aus deren Alben.
Mit der Kassette konnte man die perfekten 90 Minuten Musik zusammenstellen. Ein Lied sorgfältig an das andere gereiht. Eine Kunst. Ein Handwerk. Thema wählen, Titel finden (gerne ein obskures Wetterphänomen), den man dann Lied für Lied mit Leben erfüllt. Eins nach dem anderen, jedes Outro ergießt sich ins nächste Intro. Das Wichtigste: Die Aufnahme fand in Echtzeit statt. Kein Drag And Drop. Keine Fortschrittsbalken. Man saß einfach dabei.
Und in dieser Zeit des Wartens tat man das, was genauso wichtig wie die Liedauswahl war: über die Lieder schreiben. Kurze Notizen zu den Tracks, Fakten zum Künstler. Und warum der Songtext einfach so perfekt war. Ein Mixtape beinhaltete also nicht nur Musik, sondern auch die Anleitung zum Hören. Mit einem 0,55-Millimeter-Fineliner, in superkleiner Schrift auf den glänzenden Maxell-Einleger geschrieben (welcher ohne Zweifel Einfluss auf die Form des iPhones genommen hat), der kunstvoll in die Plastikhülle gefaltet wurde. Man war Kurator. Und nach all der Arbeit bis tief in die Nacht dann der große Moment der Übergabe. Raus aus dem Klassenzimmer, erst Blickkontakt und dann die Kassette ganz lässig auf ihren dicken Gedichtband gelegt. „Oh hey, ich habe einen kleinen Mix für dich gemacht.“
Bestimmt fragen sich die Leserinnen und Leser jetzt, warum ich diese antiquierte Tätigkeit derart huldige. Ist es nicht offensichtlich? Mixtapes veränderten alles. Sie waren der Dreh- und Angelpunkt, um bestimmte Inhalte aus einem Gesamtwerk auslösen konnte. Sie ermöglichten es jedermann, nicht nur den College-DJs, seine Lieblingslieder auszuwählen und unter einem Thema zu bündeln, eigene Kommentare hinzuzufügen und das Ganze dann mit Freunden zu teilen, ein lückenlos abspielbares, thematisch geordnetes, On-Demand-Erlebnis zu liefern. Mixtapes legten den Grundstein, den eigenen Empfindungen auf ganz neue Art Ausdruck zu verleihen und andere daran teilhaben zu lassen. Und das Beste: Man konnte kontextuelle Glücksmomente erschaffen, indem man This Mortal Coil direkt auf Here Comes the Flood folgen ließ.
Nein, das war nicht die Erfindung des Internets. Aber es war die Erfindung von dem, was wir mit dem Internet MACHEN.
Das heißt also: Die Erstellung eines Mixtapes war Social Media in Zeitlupe. Ich „poste“ Diverses zu einem bestimmten Thema zusammen mit der Erklärung, warum ich es ausgewählt habe und warum ich finde, dass es zum Thema passt. Im Gegenzug schickst du mir ebenso eine Menge „Posts“ samt dazugehöriger Worte und Gedanken. Ich höre mir die Songs an und lese währenddessen, was du mir über sie sagst, warum du sie ausgesucht hast.
Jetzt hat genau dieses Verhalten unser Leben erobert. Wir teilen nicht nur Lieder, sondern auch Spaßvideos, Filmszenen, Bewundernswertes aus Sport, Kunst, Mode und so weiter. Wir teilen die Dinge mit anderen, die wir lieben, und fügen (manchmal) unsere Kommentare über das Warum hinzu. Wir haben eine ganze Kultur rund das Teilen erschaffen.
Allerdings kam uns auf dem Weg dahin etwas abhanden - das Wesentliche, was am Mixtape-Konsum Freude bereitet hat: ein Organisationsprinzip, ein Thema.
Social Media hat die Idee des „Inhalte aus einem Gesamtwerk Entnehmens“ aufgegriffen, ohne sich um die Idee des Anordnens zu kümmern. Die beliebtesten Netzwerke sind ähnlich aufgebaut – personenbezogen und in Feeds angelegt. Ich folge Leuten, deren Posts mich in einer Newsfeed-Welle überrollen, um dann einfach zu verschwinden. Es gibt kein Organisations-Prinzip, das Posts miteinander verbindet, vom Autor und den Hashtags mal abgesehen. Ergebnis: So wie wir im „Großen Feed“ Kulturschnipsel miteinander teilen, atomisiert sich Information. Alles wird mehr oder weniger zufällig und austauschbar. Den Feed-Konsum erleben wir, ungleich dem kontextuellen Glücksmoment beim Mixtape, als Lärm, als ein misstönendes Nebeneinander. Und als ob die Lautstärke nicht schon schlimm genug wäre – mitsamt todlangweiligen Milchschaum-Portraits und Selfies verschwinden auch geniale Posts hervorragender Kuratoren auf der Feed-Müllhalde.
Ich finde, dass wir die Feed-basierten Netzwerke bis zum Letzten ausgereizt haben. Die Zeit ist reif für Plattformen, mit denen wir die Welt gemeinsam sortieren können, anstatt sie durcheinander zu bringen.
Ich glaube, die Lösung findet sich, wenn man das „Mixtape“ metaphorisch betrachtet.
Meinen ganzen beruflichen Werdegang war ich geradezu besessen von Mixtapes als Sinnbild für eine Kultur des Teilens. Zu High-School- und College-Zeiten leitete ich Magazine, die ich als Mixtapes für Kultur verstand. Mein erstes Unternehmen, „Hear Music“, bestückte Musikgeschäfte mit Hörstationen. Jede war thematisch organisiert wie ein Mixtape: „Radio Paris“ oder „Musik für die Autofahrt bei Nacht“. Nachdem ich „Hear Music“ an Starbucks verkauft hatte, bauten wir eine ganze Geschäftsidee rund um das Mixtape auf, die man ganz bequem an der Kasse von Geschäften kaufen konnte. Wir interviewten berühmte Musiker – von Tom Waits über Yo-Yo Ma bis zu den Rolling Stones – und haben mit ihnen Mixtapes ihrer Lieblingslieder für die Serie Artist's Choice gemacht. Bei „Product“ (RED) habe ich (RED)WIRE entwickelt, ein wöchentlich erscheinendes digitales Mixtape, das Leben retten half. Letztes Jahr habe ich die Ken Burns iPad-App entwickelt, auf der Ken Burns Clips seiner Dokumentationen in Mixtape-Form rund um die Themen Vorsprung, Innovation und Unternehmensführung kuratierte.
Bei „Milq“, meiner aktuellen Firma, geht es darum, die Schönheit und vor allem dieses kontextuelle Glücksmoment des Mixtapes wieder aufleben zu lassen, um das soziale Miteinander nachvollziehbar zu strukturieren. Unsere Vision ist es, eine Möglichkeit zu bieten, mit der Menschen ihre gesamte kulturelle Welt gemeinsam organisieren können. Mit „Milq“ können alle gemeinsam an Audio- und Video-Mixtapes arbeiten. Ob Todesszenen im Film (initiiert von Paul Giamatti), die besten NBA Crossovers aller Zeiten (von der NBA), Wie Designer denken (von Tim Brown, IDEO) oder Coole neue Künstler (wo ich täglich Dinge höre und sehe, die ich einfach großartig finde). Wir ermöglichen den passioniertesten und sachkundigsten Kuratoren eine Form des Teilens, das ihren Kulturbereich so kartografiert, dass jeder ihn erforschen kann.
#Für die Älteren unter Euch: Denkt an das Mixtape! Versteckt in der Unbeholfenheit seiner Plastikspulen, findet sich die Antwort auf die „feed fatigue“, die uns jedes Mal überkommt, wenn wir auf unser Telefon schauen.