Am 16. Mai wurde Timo Daum der Preis „Das politische Buch 2018“ der Friedrich-Ebert-Stiftung für sein Sachbuch „Das Kapital sind wir“ verliehen, welches auf seiner Kolumne Understanding Digital Capitalism für Das Filter fußt. Seine Festrede gibt es hier zum Nachlesen.
Das Kapital wendet sich ab von der See
Norbert Wiener, der Erfinder der Kybernetik, schreibt in seinem 1949 erschienenen Buch „Mensch und Menschmaschine“ über längst vergangene Ereignisse. Er beschreibt, wie sich das Kapital Neu-Englands in den 1860er-Jahren nach den verheerenden Stürmen im Nordatlantik und dem Untergang der Walfangflotte vor Point Barrow von der See abwandte und sich fortan nach Westen orientierte. Manche Bostoner Vermögen, schreibt Wiener, die früher über die sieben Meere gesegelt waren, fanden nun einen neuen Ankergrund in den endlosen Weiten des nordamerikanischen Kontinents. Diese Bewegung, begleitet vom Schlachtruf der Siedler „Go West“, fand erst an den Stränden Kaliforniens ihr geografisches Limit.
Und von hier aus wandte sich das Kapital 100 Jahre später einem neuen Eroberungshorizont zu – dem Cyberspace. Von einigen Garagen im Hinterland San Franciscos ausgehend, von der Hippiebewegung geprägt, mit Antistaatlichkeit garniert und dem festen Glauben an die befreienden Potenziale der Computer bewaffnet, nimmt hier die Silikolonialisierung der Welt, wie der französische Autor Éric Sadin das so treffend nennt, ihren Lauf: Die Ära des Kalifornischen Kapitalismus beginnt.
Vom Silizium-Tal bis zu den Ufern des Jangtse – diese neuerliche Expansionsbewegung ist bis in die hintersten Winkel der Erde vorgedrungen, offeriert die Segnungen digitaler Technologien und transformiert die Welt, die Menschen und ihre Beziehungen abermals in atemberaubendem Tempo. Dabei ist der Motor dieser Entwicklung immer der gleiche geblieben: das brutalst einfache Prinzip des Mehr. Auch heute noch ist die Suche des Kapitals nach Verwertung im Herzen des digitalen Kapitalismus am Werk, auch heute noch jagt das Kapital um den Erdball auf der Suche nach Profit, wie einst die East India Company.
Es ist das zu allen Zeiten unverändert gebliebene Kernprinzip unserer Gesellschaft, das diese blinde Bewegung verursacht hat, und das ihre Protagonisten selbst als Getriebene offenbart. Wie in jenem Neuengland-Winter auch waren es aber nicht einzelne Köpfe, die diese Entwicklung beschlossen. Wer Mark Zuckerberg in der Anhörung vor dem Kongress gesehen hat, seine schüchterne Hilflosigkeit gepaart mit dem dunklen Wissen, dass auch er nichts wird ändern können an der Geschäftsgrundlage, der erkennt darin die „Personifikation ökonomischer Kategorien“ wie Karl Marx die Kapitalisten seinerzeit im Vorwort zum Kapital nannte. Das Subjekt der Geschichte ist wieder und wieder das Kapital selbst.
Eine erneute Wendung: Der Digitale Kapitalismus
Wenn ein vor 20 Jahren gegründeter Online-Buchhändler den größten Automobilhersteller der Welt von seiner führenden Position bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung verdrängt – die Rede ist von Amazon. Wenn der größte Fahrdienstvermittler der Welt verkündet, er wolle den Privatbesitz an Kraftfahrzeugen weltweit obsolet zu machen – die Rede ist von Uber. Wenn die chinesische Führung ankündigt, in den nächsten Jahren knapp zwei Millionen in der Kohle- und Stahlindustrie Beschäftigte in selbständige Unternehmer auf einer Fahrdienst-Plattform zu verwandeln – die Rede ist vom chinesischen Uber-Pendant DiDi. Wenn heute schließlich über drei Milliarden Menschen regelmäßig auf den Plattformen des digitalen Kapitalismus aktiv sind und gar über fünf Milliarden Smartphones benutzen.
Wenn aus den fünf Großen der Online-Ökonomie in den letzten sechs Jahren die fünf mächtigsten Unternehmen der Welt geworden sind – die Rede ist von Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft – dann wird klar, dass die in den 1960er-Jahren in Kalifornien begonnene Bewegung des Kapitals in der digitalen Ökonomie unserer Tage ein neues lukratives Betätigungsfeld findet. Dass das Kapital tendenziell die gesamte Weltbevölkerung auf seinen Plattformen in den Dienst nimmt. Dass das Kapital eine neue gesellschaftliche Betriebsweise vorantreibt, in der Extraktion, Auswertung und Verwertung von Daten ins Zentrum der ökonomischen Aktivität gerät. Und dass diese neue Betriebsweise unser Verhältnis zu Arbeit und Wissen grundlegend verändert und unsere Werte und Vorstellungen gleich mit.
150 Jahre nach Erscheinen von Karl Marx‘ Hauptwerk wendet sich das Kapital von der schwindenden Profitabilität traditioneller Industrien ab und der Informationsökonomie zu. Die Plattformen des Digitalen Kapitalismus sind die Fabriken des 21. Jahrhunderts, Algorithmen die Fließbänder der neuen symbolverarbeitenden Industrien und Daten der Rohstoff, den diese verarbeiten.
Arbeit
Einst benötigte das Kapital Unmengen an Arbeiterinnen und Arbeitern, um diese in den Maschinenhallen des industriellen Zeitalters zu beschäftigen. Es schuf den „doppelt freien Lohnarbeiter“, der einerseits befreit von Leibeigenschaft seine Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen konnte, andererseits – da völlig mittellos – gezwungen war, sich in den Fabriken und Büros zu verdingen. Heute benötigt das Kapital diese Klasse, deren Herstellung einmal seine Voraussetzung gewesen war, und dessen Formierung es mit Gewalt durchgesetzt hatte, zusehends weniger.
Heute schafft das digitale Kapital neue Ausbeutungsformen, Millionen finden sich als Uber-Fahrer, als selbständige Kreative, als Teil einer globalen Armada von Klick-Workern wieder. Ihnen gegenüber stehen digitale Plattformen, von Optimierungs-Algorithmen getrieben, die ihre Aktivität organisieren und kanalisieren, und dabei für die Einzelnen undurchsichtig bleiben. Andererseits verweilt tendenziell die gesamte Menschheit auf den Plattformen des digitalen Kapitalismus und trägt mit ihrer Aktivität zur Generierung von wertvollen Daten bei, leistet unbezahlte Aufmerksamkeits-Arbeit in den Fabriken des User generated content.
Eine neue Klasse bildet sich hier heraus, man könnte sie doppelt freie Unternehmer nennen, den doppelt freien Lohnarbeitern nicht unähnlich. Sie sind einerseits frei in ihren sie selbst betreffenden unternehmerischen Entscheidungen, sie treten als Entrepreneure selbständig am Markt auf. Aber frei auch vom Besitz an Produktionsmitteln, verfügen sie doch nur über ein einziges Asset: Ihr einziges Kapital ist ihr eigenes Human-Kapital.
Tim O’Reilly nennt diese auch Einzel-Franchise-Nehmer, und charakterisiert diese somit als Ich-AGs, formal Selbständige, dabei ohne wirkliche unternehmerische Freiheit, von den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Plattformen gegängelt und diesen ohnmächtig gegenübertretend. Dies führt unvermeidlich zu einer Veränderung der Werte und Haltungen der Subjekte: Selbständigkeit, Freiheit, Risikobereitschaft, Flexibilität werden zu Kern-Tugenden dieser neuen Klasse, von dieser selbst propagiert, gelebt und internalisiert. Das ganze Leben wird so zum Projekt.
Maschinen
Dem Kybernetiker Wiener war das Arbeitsregime des Fabriksystems zuwider, er schreibt: „Es ist eine Herabsetzung des Menschen, ihn an eine Ruderbank zu ketten und als Kraftquelle zu gebrauchen; aber es ist eine fast ebenso große Herabsetzung, ihm eine sich wiederholende Aufgabe in einer Fabrik zuzuweisen, die weniger als ein Millionstel der Fähigkeiten seines Gehirns in Anspruch nimmt.“
Wiener konnte sich darin der Zustimmung von Karl Marx sicher sein, der in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 die missliche Lage, in die das Kapital den Arbeiter in Bezug zur Maschine gebracht hatte, folgendermaßen beschrieb: „Da der Arbeiter zur Maschine herabgesunken ist, kann ihm die Maschine als Konkurrent gegenübertreten.“
Diesen Satz zitierte kürzlich der Bundespräsident auf dem Festakt zu Karl Marx' 200. Geburtstag und fügte hinzu: „Lesen wir einen Marx-Satz wie diesen, dann könnten wir heute nahtlos anfügen: Wenn die Maschine zum Arbeiter aufsteigt, kann sie das erst recht.“ Mittlerweile konkurriert die Maschine, nicht mehr nur am Fließband mit dem Arbeiter. Die Maschinen des digitalen Kapitalismus von heute konkurrieren zunehmend auch mit den Denk-Arbeiterinnen und Arbeitern.
Das Postulat, das daraus folgt, kann nur lauten: Wir sollten aufhören, mit den Maschinen und Algorithmen um Arbeitsplätze konkurrieren zu wollen. Wenn jetzt wieder Vollbeschäftigung gefordert wird, dann halte ich dem entgegen: Vollbeschäftigung ja, aber für diejenigen, die das mit der Arbeit am besten können. Oder anders ausgedrückt: Alle Tätigkeit, die von einer Maschine vollzogen werden kann, soll auch von einer Maschine vollzogen werden.
Der digitale Kapitalismus verändert auch unser Verhältnis zum Wissen.
Wissen
Vor 25 Jahren erfand Tim-Berners-Lee das WWW, das bis heute die technische Grundlage für die meisten dieser Plattformen bildet. Die Webtechnologien, die am europäischen Forschungszentrum CERN erfunden wurden, sind von Anfang an als quelloffene Standards angelegt, lizenzfrei zu nutzen und werden von internationalen Gremien regiert.
Doch die Generierung und der Austausch von Wissen konzentrieren sich heute auf den Plattformen der Digitalkonzerne. Google und Facebook haben sich auf eindrückliche Weise etabliert als weltweite Foren für Kommunikation und Produktion des Wertvollsten, was wir als Menschheit zustande bringen: Wissen. Und uns dabei vor Augen geführt, dass beides zugleich möglich ist: kostenloser Zugang zum Wissen der Welt bei gleichzeitiger Etablierung von Geschäftsmodellen, die daraus Mehrwert schöpfen. Einerseits haben sie also die Versprechen des Cyberspace tatsächlich realisiert, andererseits haben sie eine Formel gefunden, diese Welt-Tätigkeit, dieses allgemeine Wissen, das wir alle gemeinsam erschaffen - Karl Marx verwendete hierfür den Ausdruck general intellect -, zu privatisieren, zu lizenzieren und daraus Profit zu machen.
Was tun?
Wir sollten den digitalen Kapitalismus nicht vom Standpunkt des alten kritisieren. Dem fossilen Kapitalismus, mit seiner Wachstumsideologie, seinem Arbeitsplatzfetischismus, seinem Raubbau an den Ressourcen, seiner imperialen Lebensweise sollten wir nicht nachtrauern. Er hat schon genug Schaden angerichtet.
Aber wir sollten auch den neuen nicht einfach so hinnehmen, mit seiner Indienstnahme von uns allen, seiner unternehmerischen Prekarisierung, seiner Symphonie des Grauens aus unbezahlter Tätigkeit, Datenökonomie und Überwachungsregime. Wir sollten vielmehr die Algorithmen offenlegen und ihre Ziele diskutieren und verändern, die Plattformen unter öffentliche Kontrolle stellen und zum Nutzen der Gesellschaft umbauen.
Wir sollten Tim Berners-Lees Erfindung zum Vorbild nehmen und aus den Plattformen des Digitalen Kapitalismus selbst so etwas wie das CERN machen, internationale öffentlich kontrollierte Forschungsinstitutionen. Und die ungeahnten Potenziale der Datenökonomie in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Und das beiden Phasen – dem industriellen wie dem digitalen Kapitalismus gleichermaßen – zugrunde liegende blinde Bewegungsgesetz abschalten und das Automatische Subjekt Kapital ersetzen durch ein neues Subjekt: uns.
Mehr Infos: www.fes.de/preis-das-politische-buch.
„Das Kapital sind wir“ ist bei Edition Nautilus erschienen.