Nicht wartezimmerfähigArme und Obdachlose sind in Berliner Arztpraxen und Kliniken nicht gern gesehen

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Die Lebenssituation von obdachlosen Menschen in Berlin ist dramatisch. Sozialverbände schätzen die Zahl derer, die auf der Straße leben, auf 8.000 bis 10.000 Betroffene – Tendenz steigend. Werden diese Menschen krank und brauchen ärztliche Hilfe, verschärft sich ihre Situation. Der Grund: Die Allermeisten haben keinen Krankenversicherungsschutz. In Arztpraxen und Notaufnahmen der meisten Kliniken werden sie nur notdürftig oder gar nicht behandelt. Aber auch Migranten ohne Aufenthaltsstatus, die illegal in der Stadt leben, oder Menschen, die aufgrund von Beitragsschulden keinen Versicherungsschutz bei ihrer Krankenkasse mehr haben, sind von der medizinischen Versorgung weitgehend ausgeschlossen. Sozialarbeiter und Wohlfahrtsverbände fordern jetzt vom Berliner Senat ein Finanzierungssystem, das allen Betroffenen eine menschenwürdige Basisversorgung garantiert. Doch noch ist das Zukunftsmusik. Bis auf Weiteres sind die Betroffenen angewiesen auf das Wohlwollen von ehrenamtlich arbeitenden medizinischen Fachkräften, in separaten Ambulanzen und Pflegestationen.

„Es ist schön hier, endlich mal Ruhe und vor allem Wärme“, sagt Boris, Mitte 40, lange, strubbelige graue Haare. Boris, der in Wirklichkeit anders heißt, sitzt im Tagesraum einer etwas ungewöhnlichen Krankenstation vor dem Fernseher. Er hat sich vor ein paar Tagen die Schulter gebrochen. „Eigentlich ist das ja halb so schlimm, aber ich habe keine Krankenversicherung, ich lebe auf der Straße“, erzählt er. Die Krankenstation ist eigentlich eine Pflegeeinrichtung, in der Menschen wie Boris eine Weile mal ganz in Ruhe gesund werden können. Denn: „Wenn Leute wie ich krank werden, haben sie in normalen Arztpraxen kaum eine Chance – wir werden wieder rausgeschmissen“, sagt Boris, und das macht ihn richtig wütend. Er hatte Glück: Er wird nun im ehemaligen Moabiter Krankenhaus in Berlin-Mitte behandelt. Die Caritas hat diese Pflegeeinrichtung für Menschen ohne Krankenversicherung im November letzten Jahres eingerichtet. Grund ist die dramatische Lage der Kranken, die keinen Versicherungsschutz haben und nur mit Hilfe von ambulanten Diensten und Einrichtungen versorgt werden können. Beispielsweise von Ärzten und Pflegekräften, die ehrenamtlich arbeiten. Am schlimmsten trifft es Menschen, die auf der Straße leben. So wie Boris, einem von insgesamt 15 Patienten, die zur Zeit hier gepflegt werden. Es gibt Zwei- und Drei-Bett-Zimmer, aber auch Einzelzimmer. Krankenschwestern versorgen die Patienten. Zweimal pro Woche kommt der Arzt. Er stellt die Diagnose, verschreibt Medikamente und kontrolliert den Heilungsprozess. Wer krank, aber noch mobil ist, darf die Station auch verlassen. Das ist auch nötig, denn viele der Patienten sind Alkoholiker. „Die brauchen ab und zu einen Schluck, den sie sich dann besorgen“, erzählt Till Bork. „Aber Trinken auf der Station ist streng verboten“.

„Wer viele Jahre auf der Straße gelebt hat, hat in der Regel gar keine Ahnung, dass ihm soziale Leistungen eigentlich zustehen.“

Der Sozialarbeiter ist vor allem für die Lebenssituation der Patienten zuständig. Wie geht es weiter, wenn sie nach vier Wochen wieder entlassen werden? Till Bork kümmert sich um verloren gegangene Papiere der Patienten, sorgt dafür, dass sie entweder Grundsicherung oder Hartz-IV-Leistungen bekommen, die auch eine Krankenversicherung einschließen. „Wer viele Jahre auf der Straße gelebt hat, hat in der Regel gar keine Ahnung, dass ihm soziale Leistungen eigentlich zustehen“, sagt er. Doch das größte Problem ist die fehlende Unterkunft, ein Dach über dem Kopf. Vermieter schütteln den Kopf, wenn Arme sich um eine Wohnung bewerben. Doch die Frauen und Männer, die jetzt in der Moabiter Pflegeeinrichtung betreut werden, haben zumindest eine Chance: Dass sie nicht allein gelassen werden, dass sie Ansprechpartner haben, Menschen begegnen, denen sie nicht egal sind.

Till Bork erzählt von einem Mann, der nur mit einem Nachthemd bekleidet auf der Station erschien. Er war in der Notaufnahme eines Krankenhauses nur notdürftig versorgt und wieder entlassen worden. „Seine Klamotten waren verschwunden. Aber er hat es in die Pflegeeinrichtung geschafft. Ein Indiz dafür, dass, wer nicht krankenversichert ist, schnell wieder rausfliegt. Auch und gerade aus Kliniken in privater Trägerschaft. Und nicht alle Betroffenen kennen die Anlaufstellen und Ambulanzen, in denen sie Ärzte finden, die ihre Beschwerden ernst nehmen und helfen. Das führt dazu, dass manche sterben.

Nicht nur Obdachlose betroffen

Aber es sind längst nicht nur Menschen ohne Obdach, die keine Versicherungskarte vorlegen können. Auch viele Freiberufler zum Beispiel leben oft jahrelang ohne Versicherungsschutz. Oft können sie die hohen Gebühren irgendwann nicht mehr bezahlen. Ebenso gibt es viele Menschen ohne Papiere, sogenannte Illegale, abgelehnte Asylbewerber, die bereits viele Jahre in Deutschland leben, aber nie krankenversichert waren. Sie fürchten, dass bei Arztbesuchen oder Klinikaufenthalten ihr illegaler Status öffentlich wird und zur Abschiebung führt. Auch Menschen, die aus Osteuropa zugewandert sind und mit einem ungeklärten Aufenthaltsstatus leben, gehören zur Gruppe derer, die deshalb oft jahrelang ohne ärztliche Hilfe sind.

Doch es gibt Hilfe für sie: Auf dem Gelände der Berliner Stadtmission steht seit November letzten Jahres ein kleiner Pavillon. In der Clearingstelle für Nicht-Krankenversicherte können Betroffene mit Sozialarbeiterinnen ihre Situation in aller Ruhe besprechen, ihre Sorgen und Probleme auf den Tisch legen. Jeden Tag ist hier Hochbetrieb. Frauen und Männer, Junge und Ältere, sitzen im Warteraum. Fast alle haben einen Aktenordner dabei, den die Sozialarbeiterin Carolin Ochs und ihre Kolleginnen dann durchsehen und weitere Schritte einleiten. Wenn ein Freiberufler beispielsweise Schulden bei seiner Versicherung hat und bei keinem Arzt seine Versicherungskarte vorlegen kann, gibt es die Möglichkeit, dass die Schulden in Raten abbezahlt werden. Der Versicherungsschutz geht dann trotzdem weiter: Es gibt die Möglichkeit, den preiswerten Basistarif zu wählen. Viele Menschen sind dann froh, dass es irgendwie weitergeht. Carolin Ochs erzählt von Rentnerinnen, die lange Jahre privat versichert waren, dann die Raten nicht mehr zahlen konnten, Schulden anhäuften und jetzt richtig krank sind. Sie brauchen also nicht nur einen, sondern mehrere Fachärzte. Auch für sie gibt es Hilfe.

Der sogenannte anonyme Krankenschein soll jetzt denjenigen helfen, die illegal hier leben. Vielerorts klappt das schon. Auch in Berlin soll er Menschen ohne Papiere helfen. Aber auch jenen, für die es keine Möglichkeit eines Versicherungsschutzes mehr gibt. Ärzte und Kliniken sind dann verpflichtet, den Schein anzuerkennen. Die Abrechnung erfolgt nicht mit einer Krankenkasse, sondern mit dem Sozialamt. Carolin Ochs von der Clearingstelle will zusammen mit ihren Kolleginnen noch mal mit einer genauen Konzeption bei den entsprechenden Entscheidern, also auch Politikern, Druck machen, damit der Schein kommt.

Bis das soweit ist, haben die Betroffenen nur die Möglichkeit, sich an die Ärzte und Ambulanzen zu wenden, die ehrenamtlich ihre Beschwerden behandeln. Die Migrantenmedizin der Malteser beispielsweise oder das Medibüro in Kreuzberg, das Betroffene in Arztpraxen vermittelt, in denen sie anonym bleiben können. Aber auch die Ambulanzen der Stadtmission und der Caritas helfen weiter. Am Berliner Bahnhof Zoo, gleich gegenüber der Bahnhofsmission ist so eine Anlaufstelle der Caritas. Sehr bescheiden auf dem Hinterhof gelegen, aber offen für Menschen mit Wunden, Bronchitis, Krätze oder schlimmen Bauchschmerzen. Martin Weber arbeitet hier als Krankenpfleger. Schon viele Jahre, und er kennt die meisten Männer und Frauen, die hier täglich in der Warteschlange stehen und um Hilfe bitten. „Das sind vor allem Obdachlose, aber nicht alle sind ohne Krankenversicherungsschutz“, berichtet er. In normale Arztpraxen gehen sie trotzdem nicht, weil sie fürchten, aufgrund ihres Aussehens wieder rausgeschmissen zu werden. „Das passiert ja auch, dann wird gesagt, sie seien nicht wartezimmerfähig“.

„Ich hatte eine eitrige Wunde am Bein. Die Ärztin in der Klinik sagte, ich solle das Bein hochlagern, dann würde alles gut werden. Aber ich lebe auf der Straße, da ticken die Uhren anders.“

Ein junger Obdachloser bestätigt das. Er erzählt, wie er kaum beachtet wurde: „Ich hatte eine eitrige Wunde am Bein. Die Ärztin in der Klinik sagte, ich solle das Bein hochlagern, dann würde alles gut werden. Aber ich lebe auf der Straße, da ticken die Uhren anders. Ich habe kein Zuhause mit einem gemütlichen Sofa, wo ich mein Bein lagern kann.“ „Wenn wir hier in der Ambulanz abschätzen, dass ein Mensch nicht nur ein Medikament braucht, sondern mal eine Weile Ruhe und richtige Pflege, schicken wir ihn in die neue Pflegeeinrichtung in Moabit“, erzählt Janina. Sie arbeitet als Krankenschwester in der Caritas-Ambulanz und weiß, welche Hilfe die Patienten hier brauchen. Dazu gehört auch, dass alle nett und zuvorkommend behandelt werden. Hier herrscht keine Hektik. Frauen und Männer werden in getrennten Räumen untersucht. Es gibt ein Ultraschallgerät, seit Kurzem arbeitet hier auch ein Gynäkologe. Und wer sich ein bisschen ausruhen will, kann das in der Ambulanz auch bei einem Kaffee. So oft es geht verlassen Ärzte und Schwestern die Ambulanz und fahren im sogenannten Arztmobil an die Orte in Berlin, an denen sich obdachlose Menschen aufhalten. Viele von ihnen sind nämlich so schwach, dass sie den Weg zur Ambulanz nicht mehr schaffen. Sie werden dann vor Ort im Arztmobil behandelt. Und falls das nicht mehr möglich ist, wird ein Bett in der Moabiter Pflegestation für sie frei gemacht.

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